Filmfest:Und der Haifisch, der hat Zähne

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Die Musical-Tragikomödie "Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm" eröffnet das Filmfest München. Eine Begegnung mit dem Brecht-Darsteller Lars Eidinger bei den Dreharbeiten.

Von Sonja Zekri

Ein Leben lang wollte Lars Eidinger Mackie Messer spielen, den Räuber als Bürger, aber nun ist er Bertolt Brecht. Eidinger hasst die Maske, das Ondulieren und Schminken, aber nun liegen die dünnen Fusseln wie aufgemalt auf seiner Stirn. Das Schlimmste aber ist sein Text, reiner Brecht, von Anfang bis Ende, Sätze, die der Dramatiker in Interviews gesagt, in Briefen und Abhandlungen geschrieben und für Stücke gedichtet hat, eine Collage aus süffigen Punchlines und sprödesten Traktaten zum Theater oder zum Kapitalismus, die Eidinger atmen und leben lassen soll. Man hat also größtes Verständnis, wenn Eidinger in der verwunschen neoklassizistischen Plüschbude des Bourla-Theaters in Antwerpen sagt: "Wenn der Film fertig ist, vergisst man immer, wie man gelitten hat, als man ihn gedreht hat."

Im Bourla-Theater wird die Anfangsszene von "Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm" gedreht, eines der sperrigsten und formal ambitioniertesten Unternehmen der jüngeren deutschen Filmgeschichte. Das Leiden hat gerade erst begonnen.

"Mackie Messer" erzählt, wie die "Dreigroschenoper" vor neunzig Jahren wider allen Erwartungen zum Erfolg wurde, wie Brecht daraus einen Film machen wollte, sich mit den Produzenten überwarf und vor Gericht zog. Fein dialektisch kalkulierte er mit der juristischen Niederlage, um die Korrumpiertheit der Justiz durch die millionenschwere Filmindustrie und die Verkommenheit einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft zu zeigen. Die thematische Fortentwicklung seines "soziologischen Experiments" hielt Brecht kleinschrittig fest: Nach der "Dreigroschenoper" und dem Exposé für seinen Dreigroschenfilm mit dem Arbeitstitel "Die Beule" schrieb er einen Essay über den "Dreigroschenprozess" und im Exil nach der Flucht vor den Nazis schließlich den "Dreigroschenroman". Mit jeder Variante wurde seine Zeitanalyse bissiger und wurden die Aussichten bitterer.

Joachim Lang, der "Mackie Messer"-Regisseur, kennt von dieser Textflut jeden einzelnen Buchstaben. Er hat über die Verfilmung von Brechts epischem Theater promoviert und leitete das Brecht-Festival in Augsburg. Zehn Jahre dauerten die Vorbereitungen für seinen Film, er will Brecht rehabilitieren, hält das Brecht-Bild für falsch: "Er wird oft als Dogmatiker, als Ideologe beschrieben, dabei war er damals so jung und anarchisch. Und er wollte ein Star werden."

Eidingers Brecht ist kein schneidiger Punk, sondern ein Grübler

Dafür stehen die Zeichen zunächst denkbar ungünstig. Für Langs Film wird die verhunzte Generalprobe im Berliner Theater am Schiffbauerdamm im August 1928 nachgestellt und gedreht. Auf der Bühne des Bourla-Theaters stehen unter anderem Tobias Moretti, Joachim Król, Claudia Michelsen und Christian Redl als "Dreigroschenoper"-Darsteller und fallen über Brecht, das Stück und einander her. Der Theaterdirektor will alles abblasen, die Stimmung auf den Straßen trägt Züge von Aufruhr, und dass Brecht und sein Komponist Kurt Weill für den Macheath-Darsteller (Moretti) in der Nacht zuvor noch schnell den Mackie-Messer-Song geschrieben haben, beruhigt niemanden.

Lars Eidinger als Bertolt Brecht. (Foto: Wild Bunch)

Alles viel zu vulgär, zu drastisch, zu atonal. Eidinger als Brecht sitzt unten und raucht Kräuterzigarren, die extra aus Amerika eingeflogen wurden. Seine Schuhe sind eine halbe Nummer zu klein, Schuhe sind Eidinger wichtig, diese hier gäben ihm etwas "Tänzerisches", sagt er. Physisch nämlich gäbe Brecht ziemlich wenig her: "Ein wahnsinnig unkörperlicher Typ." Von hinten sieht man seinen mageren Hals, in seinem Anzug wirkt er pennälerhaft und verletzlich. Journalisten hatten gefragt, ob Eidinger den Brecht nackt spiele, was mit seinem Ruf als Berserker und Enthemmungskünstler zu tun hat. Es stimmt ja, als Hamlet und Richard III. an der Berliner Schaubühne verausgabt er sich bis an die Grenze des Zusammenbruchs, kein Zentimeter der Bühne, den er nicht füllt. Aber mindestens so unheimlich ist das andere, das Vakuum, ein Zaubertrick des Verschwindens wie bei seinem Auftritt im Tatort "Borowski und der stille Gast".

In Antwerpen sind keine zehn Minuten gedreht, und man ahnt: Eidingers Brecht wird kein schneidiger Punk, sondern ein Grübler, der den Blickkontakt meidet und immer lächelt. Als Symbol für das drohende Scheitern rauscht ein großes Holzpferd von der Bühne in die Sitzreihen, wieder und wieder. Einmal donnert es nur Zentimeter vor Brecht ins Parkett. Eidinger, immer offen für unerwartete Wendungen, springt begeistert zur Seite: "Wow." Es klingt wie das "Hoppla" aus dem Lied der Seeräuber-Jenny.

Ein Jahr später. Der Film ist fertig und hat am Donnerstagabend das 36. Münchner Filmfest eröffnet. Seit der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkündet hat, dass er das Filmfest mit Millionen überschütten und zum internationalen Spektakel ausbauen möchte, weckt das diesjährige Programm auf ungewohnte Weise Neugier. Wäre ein solcher Film künftig als Eröffnung noch denkbar? Mit Sätzen wie "Es gibt Onanie, und es gibt Präservative, aber das ist Onanie mit Präservativen" - über Thomas Mann? Zudem mit einem Aufbau, der nach den Maßstäben von Netflix, zeitgenössischem Theater und natürlich Brecht selbst Standard ist, für den deutschen Film aber fast aberwitzig verschachtelt?

Hannah Herzsprung als Polly. (Foto: Wild Bunch)

Aus dem dann schließlich doch überwältigenden Triumph der "Dreigroschenoper" in Berlin, wo es in einer Art Branding avant la lettre bald Dreigroschen-Tanztees, Dreigroschen-Postkarten und Dreigroschen-Tapeten gab, fährt Brecht mit dem Wagen hinein in die Dreharbeiten zum Dreigroschenfilm in London-Soho. Schauspieler sprechen direkt in die Kamera, schließlich treten die Dreigroschen-Figuren selbst vor Gericht auf und erklären ihre Rolle.

Es wird sehr viel gesungen, auch getanzt. Und während man noch überlegt, ob diese überbordenden Bilder einer glanzvollen Gosse eher an Baz Luhrmanns Pop-Musicals oder an Batmans Heimat Gotham City erinnern, überwiegt bald das Staunen, dass einem in diesem Reigen nicht schwindelig wird, sondern sich eine angenehme Desorientierung einstellt.

Zwar gibt es keine Perspektive, in der sich der Zuschauer länger als ein paar Minuten einrichten könnte, aber interessanterweise entsteht daraus nicht der Eindruck eines verfilmten Proseminars über Intertextualität und episches Theater - Aus der Rolle treten! Vierte Wand durchbrechen! Verfremdung, meine Herrschaften, Verfremdung!-, sondern einer gemütlichen Achterbahnfahrt. Als die Kamera Macheath und seine Polly (Hannah Herzsprung) bei einer Bootsfahrt liebevoll von oben betrachtet, gibt Brecht - alter Romantiker! - von einer Brücke Regieanweisungen: "Über dem Kanal geht der Mond auf. Ein oder zwei Monde genügen." Woraufhin über dem Kanal zwei Monde aufgehen.

Zu den Weltmachtfantasien des Silicon Valley wäre Brecht bestimmt einiges eingefallen

Und Eidinger? Er ist, nein, nicht Brecht, eher eine Idee von Brecht, die maximale Brecht-Verdichtung. Ein Solitär, der gleichzeitig spricht und sich beim Sprechen beobachtet, für das Zusammenspiel mit den anderen unerreichbar. Es dürfte nicht viele Schauspieler geben, die diesen Solipsismus verkörpern könnten, ohne dass auf der Bühne Papierrascheln zu hören ist. Brechts Gesellschaftskritik hingegen hat es überraschend schwer, obwohl die gesellschaftlichen Zustände derzeit bekanntermaßen einige Ansatzpunkte bieten. Das liegt nicht an Tobias Moretti als bürgerlichem Gangster Mackie, der Polly, die Tochter des Bettlerkönigs Peachum heiratet - und sich ihren Vater (Król) zum erbitterten Feind macht. Wie Moretti seine verstockt unbürgerliche Schurkenbande mit tränenerstickter Enttäuschung über ein paar unnötige Morde straft, das verrät mehr über alle Distinktionsmühen des Aufsteigers als seine weißen Handschuhe. Nach einigen märchenhaften Wendungen, in denen eine zombiehafte Flut der Elenden und Depravierten die Stadt flutet, schafft er es in die Gegenwart der Londoner Hochfinanz. In Hochhäusern mit gleißend weißem Inneren verkündet er das Credo einer neuen Zeit. Künftig sollen "die Reichen gute Reiche und die Armen gute Arme" sein, der Staat wird zum Unternehmer und dürfe als solcher ihn, den Bankdirektor Macheath, zu seinen Anhängern rechnen.

Die Sätze stammen aus dem "Dreigroschenroman", Brecht schrieb sie unter dem Eindruck der Verwandlung des Dreigroschen-Publikums in Nazi-Anhänger. Aber während das Loblied auf ein überparteiliches, postparlamentarisches politisches System im Lichte aktueller Demokratie-Schmähungen beunruhigend frisch klingt, wirkt sein anderes Feindbild eher nostalgisch. Will man zehn Jahre nach dem Bankenkrach wirklich noch einmal den totgerittenen Satz vom Einbruch in eine Bank hören, der nicht so schlimm ist wie die Gründung einer Bank? Ist der Räuber, selbst der bürgerliche, nicht selbst eine altmodische Gestalt? Man hätte gern gewusst, was Brecht zu den Weltmachtfantasien des Silicon Valley gesagt hätte, dessen Waffen nicht Aktien, sondern Algorithmen sind. Es wäre ihm bestimmt Kluges eingefallen. Erhellender ist es, wenn der Bannstrahl seiner historischen Gegenwartsanalyse in die Bettler-Manufaktur des Jonathan Peachum fällt. Mit Perücken und Prothesen verwandelt dieser bedürftige, aber nicht marktgängige Bewerber in vielversprechende Modelle des Elends: den Invaliden als Opfer der modernen Mobilität, den zitternden, sabbernden Kriegsheimkehrer, den Jüngling, der bessere Zeiten kannte. Jemand hat ein Bein verloren und will betteln? Unbrauchbar. "Nur der Künstler erschüttert heute noch das Herz."

Brecht wollte die Welt mit den Mitteln des Theaters und der Kunst erobern. Heute weiß man, dass diese Inszenierung von Wirklichkeit ihren Preis hat.

© SZ vom 29.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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