Filmfest München:Neues aus 1001 Nacht

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Der Streifen "Arabian Nights" von Miguel Gomes ist ein monumentales Kino-Märchen.

Von Rainer Gansera

Portugal 2013/2014: Der Bericht von einem Streik der Hafenarbeiter, die von Massenentlassungen bedroht sind. Die Geschichte eines Gerichtsprozesses um einen Hahn, der mit seinem morgendlichen Kikeriki die Bewohner einer Kleinstadt nervt. Eine Farce mit hochrangigen Politikern, denen ein auf Potenzprobleme spezialisierter afrikanischer Medizinmann Dauererektionen verpasst. Und: Arbeitslose, die vom demütigenden Verhängnis ihrer Existenzvernichtung erzählen.

Dies alles sind wahre Geschichten - und Geschichten, die übermütig ins Absurde und Surreale gesteigert sind. Packend, verspielt, befremdlich, bezaubernd. Sie stammen aus dem ersten Teil des über sechsstündigen Film-Triptychons "Arabian Nights" des portugiesischen Regisseurs Miguel Gomes, das bei seiner Uraufführung in Cannes Furore machte, beim Sydney-Filmfestival mit dem Hauptpreis bedacht wurde und nun auf dem Filmfest München seine Deutschlandpremiere feierte.

Das moderne Märchen "Arabian Nights" dauert imposante sechs Stunden und wurde bereits in Cannes euphorisch gefeiert. (Foto: Filmfest München)

Im ersten Teil des Werks, mit dem Untertitel "The Restless One", findet sich auch die Episode von einem Filmregisseur - Gomes spielt ihn selbst -, der fluchtartig sein Set verlässt. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, macht ihm Angst: Wie kann man den Zustand eines ganzen Landes abbilden? Wie kann man davon erzählen, dass Portugal unter dem Diktat der Sparpolitik in eine finanzielle, ökonomische und soziale Krise getrieben wird? Das Ganze soll kein Sozialreport werden, sondern voll von Fantasie und Poesie sein.

"Begonnen haben wir damit", erklärte Gomes, als er sein Opus magnum beim Filmfest vorstellte, "die verschiedensten Nachrichten aktueller Geschehnisse zu sammeln, Geschichten aus der Rubrik ,Vermischtes'. Über ein ganzes Jahr hinweg. Und dann habe ich Scheherazade, die Königin der Fiktion, zu Hilfe gerufen!"

Fantasievoll seziert Gomes das Krisenland Portugal - und setzt einen Papagei auf Diät

Das Mädchen Scheherazade, das in den Märchen aus "Tausendundeiner Nacht" Geschichten erfinden musste, um ihre Hinrichtung hinauszuzögern, weiß am besten, wie man Erzählungen ersinnt. Also führt sie auch in diesen Film über die Leiden Portugals ein: "Es ist mir zu Ohren gekommen, o glückseliger König, dass sich in einem traurigen Land, in dem die Menschen von Meerjungfrauen träumen, Armut und Not ausbreiten."

Schon früher hat sich Miguel Gomes, Jahrgang 1972 und eigenwilligster Repräsentant des portugiesischen Autorenkinos, von Struktur und Motiven aus "Tausendundeiner Nacht" inspirieren lassen. Auch hier greift er tief in diese Schatzkiste des Erzählens und formt daraus ein einzigartiges Geschichten-Geflecht: Anekdote, Farce, Heldenlegende, Fake-Dokumentation - all das macht seine "Arabian Nights" aus. Wer plakative politische Botschaften erwartet, wird absichtlich enttäuscht.

Nicht alle seine Geschichten in diesem Filmmarathon entfalten dieselbe Intensität. Aber man darf darauf vertrauen, dass sich die große Kinomagie trotzdem immer wieder einstellt. Und zwar am schönsten im Herzstück der Trilogie, der genial stilisierten Aufführung einer Gerichtsverhandlung in einem Amphitheater. Was als Verhandlung über gestohlene Möbel beginnt, weitet sich zu einer Serie von Geständnissen aus. Mit einer Bande irrwitzig kostümierter und entwaffnend ehrlicher Diebe, die sich schließlich als sehr liebenswerte Zeitgenossen erweisen.

Erstaunlich auch die zahlreichen Tiergeschichten: Finken, die für einen Gesangswettbewerb trainieren. Ein Papagei, der auf Diät gesetzt wird. Und aus der Perspektive eines Hündchens namens Dixie werden Schicksale in einem Hochhausbunker des sozialen Wohnungsbaus erkundet. Tragisch verknotete Lebenslinien: Jobverlust, Drogen, das Dahinvegetieren bei drastisch gekürzten Sozialleistungen. Bei all den Milieus, die Gomes durchquert, kommt eines überhaupt nicht vor, und zwar eines, das in so vielen deutschen Beiträgen des Filmfestes mit hartnäckiger Selbstbespiegelung vorgeführt wird: das wohlsituierte Mittelstands-Milieu der Vorortvillen. Unter Scheherazades kundiger Anleitung zeigt uns Gomes vor allem dies: Wie man Augen und Herzen öffnet für die Schicksale der anderen.

© SZ vom 03.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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