Internationales Filmfestival Karlsbad:Wenn Superhelden machtlos sind

Internationales Filmfestival Karlsbad: Die Macht der Masse hat in Russland nur ein Gesicht: Filmplakat der Doku "Putin's Witnesses", die beim Filmfestival Karlsbad mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.

Die Macht der Masse hat in Russland nur ein Gesicht: Filmplakat der Doku "Putin's Witnesses", die beim Filmfestival Karlsbad mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.

(Foto: Studio Vertov)

Auch Übermenschen können Putins Russland nicht aus der moralischen Krise befreien, und die Rumänen lernen nicht aus den Fehlern ihrer Geschichte: Beim Filmfestival in Karlsbad dominieren Filme, die Verzweiflung über den Zustand unserer Welt ausdrücken.

Von Paul Katzenberger

Superhelden sind in der Regel dazu da, das Böse in der Welt bekämpfen. Doch funktioniert das auch, wenn ein System so korrupt ist und so sehr jeden moralischen Anspruch verloren hat, wie offenbar die russische Gesellschaft? Mit einem impliziten "Nein" antwortete der russische Regisseur Ivan Tverdovsky beim 53. Internationalen Filmfestival im böhmischen Karlovy Vary, das an diesem Wochenende zu Ende ging.

Sein Wettbewerbsfilm "Jumpman" zeigte Moskau als eine verlorene Welt, die auch ein Übermensch nicht retten kann. Tverdovskys Superheld ist der Teen Denis (Denis Vlasenko), der über die übernatürliche Fähigkeit verfügt, jede noch so große Gewalteinwirkung auf seinen Körper ohne Schmerzen ertragen zu können.

Die russische Gesellschaft kann er mit dieser Gabe allerdings nicht zum Besseren verändern - im Gegenteil: Menschliche Grundbedürfnisse wie Anerkennung oder emotionale Nähe werden ihm nur zuteil, solange er mit seiner speziellen Veranlagung dabei hilft, unschuldige Menschen auszurauben. Dazu wirft er sich bewusst vor die Autos reicher Mitmenschen, die daraufhin von einem Netzwerk korrupter Polizisten, Ärzte und Richter mit dem "Unfall" erpresst werden.

Denis' Mutter Oxana (Anna Slju) ist Teil der kriminellen Bande und gewährt ihre Mutterliebe nur unter der Bedingung, dass sich der Sohn von ihr zum Trickbetrüger abrichten lässt.

Ohne die Chance, sich als echter Superheld zu entfalten, wird Denis in Tverdovskys Film allerdings zunehmend zum Antihelden, der eine sympathische Schwäche entwickelt. Denn je mehr der junge Mann ein Teil dieser Unterwelt und ihrer geldgetriebenen Verlockungen wird, desto mehr verliert er seine spezielle Fähigkeit, und desto uninteressanter wird er für seine leibliche Mutter.

Ethische Verderbtheit

Sich in räuberischer Absicht vor Autos zu werfen, ist eine geläufige Form des Betrugs in Russland . Der Politiker Alexej Nawalny verzichtet deswegen aufs Autofahren, denn er fürchtet, auf diese Weise vom Kreml als Oppositioneller unschädlich gemacht zu werden.

Für Tverdovsky ist die Praxis ein Beispiel für die ethische Verderbtheit des ganzen Landes: "Die Gesellschaft lehrt diesen Kindern (wie Denis, Anm. d. Red.), dass man für seine Taten keine moralische Verantwortung übernehmen muss. Der Sohn eines Polizeioffiziers oder eines Regierungsbeamten weiß ganz genau, dass sein Vater Bestechungsgelder annimmt. Aber er spricht ihm deswegen keine Schuld zu. Das gehört einfach nur zu ihrem Leben dazu", sagte er in Karlsbad, wo sein Film zu den stärksten Wettbewerbsfilmen zählte. Die Jury unter dem britischen Regisseur Mark Cousins würdigte ihn mit einer speziellen Erwähnung.

Derjenige, der die letzte Verantwortung für die tiefe Durchdringung Russlands mit Korruption trägt, wird dort allerdings tatsächlich wie ein Superheld inszeniert: Staatspräsident Wladimir Putins öffentliches Bild wird nicht nur dadurch geprägt, dass er in seinem eleganten Zwirn stets sehr kompetent wirkt, sondern er gibt auch mal den muskulösen Naturburschen mit freiem Oberkörper oder den Großwildschützer in den Weiten Sibiriens - die arrangierten Bilder sind auf der ganzen Welt nur allzu gut bekannt.

Viel Energie für ein müßiges Unterfangen

Internationales Filmfestival Karlsbad: Szene aus "Jumpman": Die Mitschüler prüfen Denis' (Denis Vlasenko) Fähigkeit, Schmerz zu ertragen.

Szene aus "Jumpman": Die Mitschüler prüfen Denis' (Denis Vlasenko) Fähigkeit, Schmerz zu ertragen.

(Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Der Dokumentarfilm "Putin's Wittnesses" des vielfach ausgezeichneten ukrainischen Filmemachers Vitali Manski zeigte in Karlsbad jedoch sehr eindrücklich auf, wie sich Putins Weg an die Macht hinter den Kulissen tatsächlich abgespielt hat. Denn Manski hatte in den Jahren 2000 und 2001 aus einer Reihe glücklicher Umstände heraus sowohl zu Putin als auch zu dessen Königsmacher und Vorgänger Boris Jelzin ungewöhnlich freien Zugang mit der Kamera.

18 Jahre danach wirken die Bilder bereits wie eine erste Prophezeiung der totalitären Tendenzen, die mit Putin Einzug im Kreml halten würden. Der Zuschauer sieht Jelzin, den ersten demokratisch legitimierten Präsidenten Russlands, der den Sieg seines Zöglings bei der Präsidentschaftswahl im März 2000 im Kreis der Familie vor dem Fernseher feiert, als ob er selbst wieder gewählt worden wäre. Doch als ihn der Regisseur ein Jahr später vor laufender Kamera fragt, was er von Putins zwischenzeitlich getroffener Entscheidung halte, die von ihm selbst abgeschaffte Nationalhymne der Sowjetunion zu reaktivieren, wird der erste Präsident des neuen Russland sehr still und presst schließlich nur heraus: "Das ist sehr rötlich", was mit "Es geht wieder in die alte Richtung" übersetzt werden kann.

Für seine entlarvenden Einblicke sprachen die Juroren in Karlsbad Manski zu Recht den Preis für den besten Dokumentarfilm des Festivals zu. "Putin's Witnesses" zeigt, wie erhellend ein zeithistorisches Dokument im Nachhinein sein kann. Denn nahezu alle Figuren, die in "Putin's Wittnesses" auftauchen, weil sie den Präsidenten am Anfang seiner Amtszeit unterstützten, stehen heute entweder in Opposition zu ihm, leben im Exil, starben oder wurden ermordet. Durch "Putin's Wittnesses" wird uns die Gegenwart durch die knapp 20 Jahre jüngere Vergangenheit verständlicher.

Auch der rumänische Regisseur Radu Jude machte sich in Karlsbad daran, die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären. Seine Tragikomödie "I Do Not Care if We Go Down in History as Barbarians" greift ein heikles Kapitel der rumänischen Geschichte auf: Als Verbündeter des Deutschen Reiches in Zweiten Weltkrieg ließ die Regierung des Karpatenstaats unter Premierminister Ion Antonescu im Dezember 1941 mehr als 50 000 Juden aus dem von der rumänischen Armee besetzten Odessa (damals Sowjetunion, heute in der Ukraine, Anm. d. Red.) massakrieren. Es war die größte Einzeltat des Holocaust ohne deutsche Beteiligung.

Doch im kollektiven Gedächtnis der Rumänen wird diese historische Schuld einfach zur Seite geschoben: "Als Kinder haben wir uns immer Filme angesehen, die zeigten, wie die rumänische Armee gegen die Nazis kämpft", sagte Jude in Karlsbad. "Aber das war erst von 1944 an der Fall. Wegen dieser Propaganda, weiß bei uns heute kaum einer, dass die Rumänen viel länger an der Seite der Deutschen Verbrechen begingen, als gegen sie zu Felde zu ziehen."

Viel Energie für ein müßiges Unterfangen

Jude siedelt die Handlung seines Films in der Gegenwart an, um die bis heute anhaltende Verleugnung historischer Tatsachen aufzuzeigen: Die Theaterregisseurin Mariana Marin (ein Alter ego Judes, gespielt von Ioana Iacob) erhält den Auftrag, ein wesentliches Ereignis der rumänischen Geschichte als Theaterstück ins Werk zu setzen. Sie nimmt den Auftrag an, doch anstatt einen Heldenepos zu inszenieren, was im Sinne ihres Auftraggebers wäre, greift sie ausgerechnet die rumänische Mitschuld am Holocaust in Odessa auf, die das Land nur allzu gerne ignorieren würde.

Sie bekommt deswegen Ärger mit dem Stadtoberen Movilă (Alexandru Dabija), der fürchtet, Marins Projekt könne den Menschen zu "anti-rumänisch" vorkommen. Sie mobilisiert alle Kräfte, um sich durchzusetzen, und bringt ihr Stück zur Aufführung. Doch gerade dadurch erfährt sie, wie müßig ihr Unterfangen ist. Denn keiner ihrer Zuschauer will der Realität und ihrer Manipulation ins Auge zu blicken.

Welche Rolle spielt die Vergangenheit, wenn die Gegenwart von Egoismus und Ignoranz geprägt wird? Jude nähert sich der Frage in seiner vielschichtigen Parabel über Wahrheit und Täuschung mit viel Witz, ohne je den ernsten Hintergrund des Themas zu verraten. Dafür erkannte ihm die Jury den Kristallglobus - den Hauptpreis des Festivals - zu Recht zu.

Gerade in Deutschland wäre dem Film zu wünschen, dass er in die Kinos kommt. Denn bei der Aufarbeitung der eigenen historischen Schuld ist das Land weit gekommen. Doch was bedeutet das im Zeitalter des auch in Deutschland erstarkenden Nationalismus, der von Eigennutz und Ignorantentum geprägt ist? Der Siegerfilm des diesjährigen Filmfestivals in Karlsbad gab eine ernüchternde Antwort.

Internationales Filmfestival Karlsbad: Der Kristallglobus ist seiner: Regisseur Radu Jude bedankt sich in Karlsbad für den Hauptpreis des Festivals.

Der Kristallglobus ist seiner: Regisseur Radu Jude bedankt sich in Karlsbad für den Hauptpreis des Festivals.

(Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)
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