Filmfest München 2014:Baden in Musik

"A Certain Madness", Valery Gergiev, Filmfest München

"Eine gewisse Verrücktheit" über Valery Gergiev - zu sehen beim Filmfest München 2014.

(Foto: Filmfest München)

Für viele Menschen ist Valery Gergiev kein Rätsel, sondern ein Gott. Für andere ein begabter Putinfreund und Schwulenfeind. Beim Filmfest München läuft nun "Eine gewisse Verrücktheit", Alberto Venzagos schwarz-weiße Doku über den umstrittenen Petersburger Stardirigenten.

Von Tim Neshitov

Es sind die letzten zehn Minuten dieses Films, die das Rätsel Valery Gergiev lösen.

Wenn es denn überhaupt ein Rätsel gibt. Für viele Menschen ist Gergiev kein Rätsel, sondern ein Gott. Für andere ist er ein musikalisch einigermaßen begabter Chauvinist - und fertig.

Wer aber gespalten ist und sich fragt: Sollte dieser Musik- und Machtkünstler, dieser Weltstar aus Sankt Petersburg (geschätztes Jahreseinkommen: zwölf Millionen Euro), dieser getriebene Virtuose mit oszillierender Weltanschauung wirklich Chefdirigent der Münchner Philharmoniker werden - der möge diese Doku sehen.

"Gergiev - a certain madness" ("Eine gewisse Verrücktheit") ist eine seltene Nahaufnahme: Gergiev mit dem Orchester des St. Petersburger Mariinski-Theaters auf einer Tour durch die russische Provinz. Es ist ein Kraftakt: 14 320 Kilometer in drei Wochen, jeden Abend ein neuer Konzertsaal entlang der Transsibirischen Eisenbahn, Beuteltee im engen Abteil, Spiegelei, Lokpfiffe in der Nacht und die endlose Weite Sibiriens im Zugfenster.

Vor allem dieses Publikum, Schulmädchen mit Zöpfen, Metallarbeiter in Sakkos. Menschen, die anders Musik hören als Gergiev-Fans in St. Petersburg, New York oder München. Der Schweizer Filmemacher und Fotograf Alberto Venzago kennt Gergiev seit acht Jahren, er ist Hausfotograf beim London Symphony Orchestra, Gergievs anderem Orchester. Für den Film begleitete ihn Venzago zwei Jahre lang mit der Kamera. Am stärksten sind, wie gesagt, die letzten zehn Minuten.

Venzago (er ist auch einer der beiden Kameramänner) zeigt da ein Metallwerk, Männer mit Stirnlampen und rauen Gesichtern, einen Funkenregen, das Bild würde perfekt in einen Rammstein-Clip passen. Zu diesem Bild hört man "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgski, und Schnitt - man sieht Gergiev und die Musiker im Konzert. Gergiev beherrscht das Geschehen, er dirigiert nicht, er regiert diese Musik, und sie pulsiert mit fröhlicher, schüchterner Vorahnung.

Venzago ist zu Hause beim Metallarbeiter Eldar und dessen Frau. Eldar raucht vor einem vergitterten Fenster in einem hohen Stockwerk, seine Frau malt sich die Lippen nach vor dem Spiegel im Flur, sie sprechen nicht miteinander, denn sie werden gefilmt. Vielleicht sprechen sie auch sonst nicht viel miteinander. Wie heißt diese Industriestadt, in der sie wohnen? Man weiß es nicht, da stehen sehr viele Schornsteine, und ein kleines Mädchen auf dem Balkon einer Plattenbausiedlung lässt sein Plastikpferd über dem Abgrund baumeln mit einem Blick, als hätte es gerade erfahren, dass es keinen Gott gibt.

Eine saubere Tram bringt Eldar und seine Frau ins Konzert, natürlich hat das alles nichts mit Gergievs Musik zu tun - die hört man die ganze Zeit im Hintergrund: Die scheue Zukunftsfreude weicht da gerade, als die beiden ihre Fahrkarten kaufen, etwas ganz anderem, bei Gergiev und Mussorgski öffnet sich ein prächtiges, bergschweres, himmelhohes Tor ins Ungewisse - während Eldar und seine Frau auf zwei Fetzchen Papier warten, die eine Kontrolleurin von einer Rolle in ihrer Umhängetasche abzupft. Nein, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun - und doch alles.

Eigentlich muss man Eldar nicht mehr zuhören, als er in der Pause (Kaffee, Kuchen, tiefe Plüschsessel) versucht in Worte zu fassen, was die Musik bei ihm auslöst. "Wenn man diese Musik hört, zwingt sie einen irgendwie, an etwas Erhabenes zu denken, quasi in die Zukunft zu schauen, über Sachen nachzudenken."

Der Film, der in den siebzig Minuten davor vergebens versucht, durch Nähe Intimität zu erzeugen, erreicht hier seinen ersten Höhepunkt. Denn auch nachdem man gesehen hat, wie Musiker im Zug essen, proben, Zeitung lesen, versteht man nicht, wie Gergiev dieses Tempo durchhält (die Reise durch Sibirien findet jedes Jahr in der Zeit um Ostern statt, insgesamt gibt er jährlich an die 360 Konzerte). Man versteht nicht, wie seine Musiker das durchhalten (Zulagen gibt es für solche Einsätze nicht). Gergiev sagt im Film, er halte diese Tour für wichtig. Punkt. Ein Kontrabassist sagt, im Orchester herrsche "ein Gefühl der Gefahr, ein Gefühl, dass man keine Fehler machen darf". Er betont, dass alle anderen Orchester, die Gergiev dirigiert, "einfach in Musik baden". Zum Mariinski, in dem man auch in Musik bade, habe Gergiev ein anderes Verhältnis - was den einzigartigen Mariinski-Sound präge. "Das Gefühl der Gefahr erzeugt diesen Nerv, den es sonst in keinem Orchester gibt."

Regisseur Venzago gibt zu, dass er bis heute nicht versteht, wie Gergiev ("ein verrückter Hund") funktioniert. Den Münchner Philharmonikern wünscht er, Gergiev möge sie wie das London Symphony Orchestra behandeln: "Wie eine Geliebte, und nicht wie seine Frau, das Mariinski."

Die Doku entstand noch vor Gergievs Äußerungen zur Homosexualität und zur Krim. Venzago sagt, er sei wütend auf Gergievs PR-Leute ("Jemand soll ihn vor sich selbst schützen!"). Der Inhalt der Äußerungen habe ihn irritiert. In dem Film gehe es aber um Gergievs Leidenschaft.

Man erfährt aus dieser Doku nichts Privates über Gergiev, nichts über sein Verhältnis zu Putin. Das Rätsel Gergiev wird gelöst, indem es - direkt nach den Szenen mit Eldar - einfach beiseitegefegt wird. Durch Musik. Das Orchester spielt Tschaikowskys 6. Sinfonie. Bei der Uraufführung im Oktober 1893 stand Tschaikowsky selbst am Pult, neun Tage später starb er. Diesmal beherrscht Gergiev nichts. Er bedeckt seinen Mund mit der Hand, greift sich an die Augen. Er ist kein Getriebener mehr, kein Putinfreund, kein Schwulenfeind, kein lieber, kluger Mensch. Er ist einfach nicht da, ist zur Seite getreten. Für die Musik.

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