Bei allen Eskapaden und Exkursen ist dies aber, das wird schon in Zimmer Nr. 1 klargemacht, natürlich ein Handbuch fürs Leben in Hotelzimmern - als der einzig möglichen Form des richtigen Lebens. "Ein gutes Hotel erkennt man unter anderem daran, ob direkt über dem Arbeitszimmer ein Spiegel angebracht ist. In neunzig Prozent der Fälle ist das so, aber es ist falsch. Der Spiegel geht davon aus, . . . dass das Hotelzimmer nur eine Übergangslösung ist, um in die Welt zu gelangen. Dabei sollte einem das Hotelzimmer doch vorspielen, man sei hier zu Hause. Und kein Mensch hängt über seinem Arbeitstisch einen Spiegel auf. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen."
Bei Glawogger geht das andersherum, er lässt die Welt hineindringen ins Hotelzimmer, durchs offene Fenster oder, wenn's denn sein muss, auch im Halbschlaf und durch Träume. Das Imaginäre ist absolut real, weshalb die Glawogger-Spielfilme, zum Beispiel der zugedröhnte "Contact High", einem fast dokumentarischer vorkommen als die Dokumentationen. Manchmal dringt das politische Zeitgeschehen in eines der 95 Stücke, eine kleine Revolution, die ihn für Tage an der Abreise hindert, oder die Ereignisse um 1989, die bei der Wiederkehr die Länder des Balkans so verändert wirken lassen. Die ganze Welt scheint bereist und erfasst zu sein, zumeist in den Jahren von 1990 bis 2012 berichtet, aber es gibt auch Exkurse nach Österreich, in die Jugend, als er als Ministrant, als Bellboy des Herrn diente im Dom von Graz oder später mit einem weißen BMW ein Reh überfuhr bei Drosendorf.
Es gibt Episoden in den Ländern, in denen Glawogger drehte - Mexiko, Thailand -, ohne dass Bezug genommen würde auf diese Arbeit. Es gibt Anklänge an das Tagebuch, das er auf seiner Filmtour 2014 führte und das auf Süddeutsche.de erschienen ist - die Bar Bremen zum Beispiel, in Banjul, Gambia, aus der er vor einem Jahr, am 21. März 2014, berichtet hatte. Aber das Subjekt, von dem hier erzählt wird, bleibt unnahbar und elusiv, in der Tradition der großen Erzähler wie Montaigne und Cervantes, Handke und Lévi-Strauss. Die Stücke springen wild in Zeit und Raum - ist es wirklich ein Held, dessen Erlebnissen wir folgen, oder sind es 95?
Das letzte Hotel steht in Karlsruhe, es wird aufgesucht, kurz bevor es schließt, 2012. Erneut geht es um die Korrektur der Kombination Spiegel und Schreibtisch. "Und so trug er meist als Erstes . . . den Tisch irgendwo anders hin und prüfte, wie sich der Raum danach anfühlte . . . Aber oft, wenn er mit dem Tisch gerade mitten im Zimmer stand, sah er sich selbst im Spiegel. Und das war jedes Mal der Moment, am eigenen Verstand zu zweifeln."
Leintücher, mit Bleistiftspuren darauf
Nein, in dieser Pose, als "Der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen" möchte der Erzähler nicht in der Erinnerung weiterleben . Das ist das große Abenteuer des Buches - diesem fixierenden Blick, der einen erstarren lässt, um alles in der Welt zu entgehen. Sich verlieren ins Spiel der Reflexion, der Ironie, der erlösenden Heiterkeit. In eine imaginäre Autobiografie. Ein paar Signale weisen auf den Mann Glawogger, führen aber gleich wieder weg.
Eine wunderschöne Liebesminiatur zeigt den Helden und seine Frau in einer Tansanit-Mine in Tansania, aus der sie schwarz zurückkehren ins Hotel. Eine Stunde brauchen sie in der Wanne, um sich einigermaßen vom Staub zu säubern. Beim Wegfahren flattern Leintücher im Garten des Hotels. "Eines davon hatte noch die schwarzen Umrisse zweier schlafender Körper, die wirkten, als hätte sie jemand mit einem riesigen Bleistift darauf gezeichnet. Er fragte sich, wie oft man dieses Leintuch noch würde waschen müssen, bis man sie nicht mehr erkennen konnte."