Filmemacher Chris Marker ist tot:Im Schutz kreativen Wahnsinns

Sein Film "Sans Soleil" ist ein Wendepunkt im modernen Kino, dem kein Tabu zu sakrosankt, keine Utopie zu kühn ist. Als Künstler versuchte er, sich von allen gesellschaftlichen Erwartungen zu lösen. An seinem 91. Geburtstag ist der Filmemacher, Fotograf, Schreiber und Zeichner Chris Marker gestorben.

Fritz Göttler

Der Wahnsinn schützt, heißt es mitten in seinem großartigen "Sans Soleil", das Fieber auch . . . In einer Kaskade von Bildern, selbstgedrehten und vorgefundenen, auf einem Trip durch das moderne Japan, aber auch mit Exkursionen nach Guinea-Bissau oder Island, San Francisco oder Paris, misst dieser Film das Terrain des menschlichen Gehirns aus, seine Denk- und Erinnerungskapazitäten, die Produktivkraft der Imagination. Dabei werden die Elemente der politischen Ordnung neu verhandelt: Gesellschaft und Anarchie, Faschismus und Sozialismus, Krankheit und Gesundheit, Rationalität und Phantasie, Dokument und Fiktion - in einer Ursprünglichkeit, der kein Tabu zu sakrosankt, keine Utopie zu kühn ist. Kreatives Fieber. Kreativer Wahnsinn.

Sans Soleil" aus dem Jahr 1983 ist der Wendepunkt im Werk von Chris Marker, und ein Wendepunkt im modernen Kino. Eine Bewegung geht von dem Film aus, die in die Zukunft wie in die Vergangenheit weist. Man kann nicht mehr Filme machen wie man es bislang tat und man kann nicht mehr auf die Filme schauen in der vertrauten Manier. Es ist, als wäre man selbst in eine Spirale versetzt wie der zeitreisende Held in seinem Film "La jetée", aus dem Jahr 1963, in dem er nachwies, dass nicht der Fluss der Bilder im Kino zählt, sondern das was sie zum Stocken bringt. Die Kunst der Evasion in höchster Vollendung. Der Film besteht aus kristallisierten Einzelmomenten, in denen das Kino der Gegenwart zu entfliehen versucht, durch die gerade aber Realität ins Kino eindringt.

Während er "La Jetée" schuf, arbeitete Marker parallel an "Le joli Mai", seinem monumentalen Frage-und-Antwort-Spiel über die französische Gesellschaft Anfang der Sechziger. In den revolutionären Bewegungen der dieser Zeit tat sich Marker zusammen mit seinen Freunden vom linken Seine-Ufer, unter anderem Alain Resnais und Agnès Varda, um gegen den US-Imperialismus gemeinsam "Loin du Vietnam" zu drehen. Eine Parallelwelt zur damals potenten Nouvelle Vague.

Unberechenbare Geduld der Revolutionäre

Marker arbeitete weiter für die militante Filmgruppe Slon, die sich später in Iskra umbenannte. 1977 zog er Bilanz dieser Arbeit und der revolutionären Bemühungen, denen sie gewidmet war, mit dem Film "Le fond de l'air est rouge". Die politische Begeisterung ist gedämpft worden in den Jahrzehnten nach dem Mai '68, aber nie erloschen. Im irrealen Lächeln von Lewis Carrolls Cheshire-Katze hat Marker das Verhältnis zwischen der Reinheit der revolutionären Idee und der brutalen Wirklichkeit der Revolutionen geahnt.

Chris Marker - geboren als Christian François Bouche-Villeneuve - war Filmemacher, Fotograf, Schreiber, Zeichner, er machte sich einen Spaß daraus, in den verschiedenen Funktionen zu verschwinden, sich selbst zu zerlegen als Autor und als Persönlichkeit, sich herauszulösen aus der Gesellschaft und von den Erwartungen und Rollen zu distanzieren, die sie dem Künstler zuschrieb - am Ende sogar selbst unsichtbar zu werden.

Kreatives Fieber, kreativer Wahnsinn. Den Wahnsinn der Liebe, den amour fou hat er in einem Film gefunden, der entstand kurz nachdem er selbst mit dem Filmemachen angefangen hatte - von "Olympia 1952" handelte sein allererster kleiner Film, die Spiele in Helsinki -: Hitchcocks "Vertigo", er steht im Zentrum auch von "Sans soleil". Der größte Film über die unmögliche Liebe, sagt Chris Marker, und das heißt, darüber, dass in solcher Unmöglichkeit Liebe erst sich verwirklichen kann. Die Vertigo-Spiralen ziehen durch sein ganzes weiteres Werk, eine tour de force, à bout de souffle. In "Level Five" lässt sie auch das Kino hinter sich, ein Film, der sich als Videospiel tarnt, um alternative Möglichkeiten des Zweiten Weltkriegs, auf Okinawa, durchzuspielen.

Die Entfernung zwischen den Räumen gleicht in gewisser Weise die schreckliche Nähe der Zeit aus, liest man zu Beginn von "Sans Soleil", ein Satz von Racine. Markers Filme bewahren in den Bilderwellen der modernen Medien die unberechenbare Geduld der Revolutionäre, und oft hat er sie bei anderen Filmemachern verspürt und in kleinen Filmen gefeiert, bei den Russen Medwedkin und Tarkowski, dem Japaner Kurosawa. Ihn hat er bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film "Ran" beobachtet, auf dem Fujiyama, wo er gewaltige Heere gegeneinander anreiten ließ, umwirbelt vom schwarzen Staub des Bergrückens. Es war eine verschworene, eine auf phantastische Weise utopische Gemeinschaft, in der die Hierarchien und Ordnungen aufgehoben schienen. Ein revolutionärer Moment, herausgelöst aus dem Lauf der Geschichte. Am Sonntag, an seinem 91. Geburtstag, ist Chris Marker gestorben.

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