Filmdokumentation:Orte, die sich selbst erzählen

Lesezeit: 3 min

Die Kino-Nomadin Ulrike Ottinger und ihre zwölfstündige Nordmeer-Meditation "Chamissos Schatten".

Von Rainer Gansera

Von der Erschaffung der Welt ist die Rede, wenn die große Reise in Alaska beginnt. Ulrike Ottinger liest aus ihrem Logbuch eine Passage, die von Ursprungsmythen der Ureinwohner erzählt: "Der Rabe ist der Schöpfer der Welt. Aus seinen festen Ausscheidungen entstand je nach Beschaffenheit Land, Fels, Kies und Tundra. Seine flüssigen Ausscheidungen wurden zu Seen, Meeren, Tümpeln, Flüssen und Sümpfen." Ottingers Stimme hält - wie ihr Film insgesamt - die Balance zwischen der Nüchternheit eines ethnologischen Berichts und Zaubermärchenklang.

Sie sagt, sie habe die Reise als "Ethnografin und Künstlerin" angetreten. Zwei Wahrnehmungsweisen, deren gemeinsamer Nenner in der Faszination liegt, die animistische Weltsichten für Ulrike Ottinger haben. Eine Faszination, die seit 40 Jahren ihre Spiel- und Dokumentarfilme durchwirkt, auch ihre anderen Arbeiten: Fotografien, Installationen, Hörspiele, Theaterinszenierungen. Realität und Imagination, der Zauber von Masken-Mythen-Metamorphosen und die präzise Erkundung von Welten, die gesellschaftlich oder zivilisatorisch an den Rand gedrängt sind.

Trockenfisch ist das Brot der Nordländer. In der zwölfstündigen Nordmeer-Meditation "Chamissos Schatten" geht es auch um Fischfang und Fischereirechte. (Foto: RealFiction Film)

Nicht nur Stammeskulturen, auch Filmemacher lassen sich unterscheiden in Nomaden und Sesshafte. Ulrike Ottinger ist eine Nomadin mit Leib und Seele, eine große Reisende. Ihr In-Bewegung-Sein erzeugt Energie. Der Osten verlockt sie besonders, sie durchquerte die Mongolei, Japan, Korea, China, und nun hat sie auf den Spuren bedeutender Forschungsreisender des 18. und 19. Jahrhunderts die Beringsee und ihre angrenzende Küstenlandschaften bereist. Entstanden ist dabei ein zwölfstündiger, der Dramaturgie eines Logbuchs folgender Reisefilm, der als Kinofilm in vier Teilen gezeigt wird. Auch eine Zeitreise, wenn immer wieder Zitate aus den Reiseberichten der historischen "Vorgänger" (Adelbert von Chamisso, Georg Wilhelm Steller, Captain James Cook) die Vergangenheit in Erinnerung rufen. Vor allem aber eine Spurensuche: Was ist von indigenen Lebensformen nach all der kolonialen Gewalt und Zerstörung noch aufzufinden?

Erster Teil: "Alaska und die aleutischen Inseln". Von Anfang an ist das Entscheidende, sich auf den meditativen Erzählfluss einzulassen. Ottingers Bilder - sie hat die Kamera selbst geführt - folgen keiner argumentierenden Linie, bebildern keine Idee. In den zwölf Stunden, die "Chamissos Schatten" dauert, drückt sich auch kein Wille zur Monumentalität aus, sondern die Hingabe eines Blicks, der Menschen, Orten und Dingen Zeit gibt, sich selbst zu erzählen. Die Augen dürfen sich öffnen. Für die Rangkämpfe unter Seeadlern, den Alltag der Meeresjäger, das Spiel von Seeottern, den Sturm bei der Schiffspassage.

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Zur Apotheose der Dauer wird im zweiten Teil, "Tschukotka", das Erjagen und Schlachten einer Robbe. Eine blutige Angelegenheit, minutiös zu verfolgen, nichts für Zartbesaitete, und zugleich ein ritueller Vorgang. Von jedem Fleischteil des getöteten Tieres muss ein kleines Stück abgeschnitten und der Meeresgöttin Sedna geopfert werden. Überall hält Ottinger Ausschau nach solchen Momenten, in denen praktisches Tun und rituelles Handeln ineinanderspielen. So auch im dritten Teil, "Tschukotka und die Wrangelinsel", der ins Landesinnere zu den Rentierherden führt und die Spuren der Zerstörung beschreibt, die der Sowjetkommunismus in der Lebenswelt der Tschuktschen hinterlassen hat. Um Prestigeprojekte neureicher Investoren und die Korruption bei der Vergabe von Fischereirechten geht es im vierten Teil: "Kamtschatka und die Beringinsel". Bilder vom industriellen Fischfang und der schockierende Moment, wenn wir uns nach all den ländlichen Exkursionen plötzlich in einem Supermarkt befinden. Uniformierte Verkäuferinnen, dudelnde Musikbeschallung - als wären wir in einen Science-Fiction-Film geraten.

Eigentlich liebt Ulrike Ottinger Feiern, Prozessionen, festliche Rituale. Man wartet darauf, aber in "Chamissos Schatten" findet nichts dergleichen statt. Gezeigt werden wohl einige Darbietungen von Tanz und Gesang, der Zwei-Raben-Tanz oder Walfänger-Tanz, aber das sind Aufführungen wie zur Probe, nur mal so für die Kamera, ohne festlichen Rahmen, traurige Folklore. Dafür gibt es die persönliche Feier von Glücksmomenten, etwa den Augenblick, wenn in einem von Kohlestaub geschwärzten Hafenörtchen der Duft frischer Backwaren alles verwandelt und sich "eine plötzliche Leichtigkeit einstellt". Oder die Schwenks über grandiose Natur, wenn der Eintrag im Logbuch zu den rot glühenden Lavabergen lautet: "Zutiefst bewegend und Ehrfurcht gebietend waren Schönheit und Härte der Landschaft - als ob man dem Schöpfungsprozess der Erde beiwohnte!"

Chamissos Schatten , D/Ö/CH 2016 - Buch, Regie, Kamera: Ulrike Ottinger. 2.Kamera: Stefan Gohlke. Zitate-Sprecher: Burghart Klaußner, Hanns Zischler, Thomas Thieme. Real Fiction, 718 Minuten. Kinostart in vier Teilen: Kapitel 1 Alaska und die aleutischen Inseln (193 Minuten) seit 24. März; Kapitel 2 Teil 1 Tschukotka (192 Minuten) ab 14. April; Kapitel 2 Teil 2 Tschukotka und die Wrangelinsel (156 Minuten) ab 5. Mai; Kapitel 3 Kamtschatka und die Beringinsel (177 Minuten) ab 26. Mai.

© SZ vom 31.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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