Ende der Siebzigerjahre, David Lynch hat gerade "Eraserhead", seinen ersten langen Spielfilm fertiggestellt, trifft er in Hollywood einen Produzenten, um ihm sein neues Drehbuch vorzustellen, Titel: "Ronnie Rocket". "Na, mein Bester, was hast du anzubieten?", fragt der Produzent. Lynch antwortet: "Es geht um einen Mann, der gerade mal einen Meter groß ist, eine rote Schmalztollenfrisur hat und sich ständig mit 60-Hertz-Wechselstrom aufladen muss." Sein Gegenüber erwidert: "Du findest ja sicher selbst raus, oder?"
So erzählt es der legendäre Künstler und Filmemacher in seiner Autobiografie, die er mit der Journalistin Kristine McKenna verfasst hat. Im Original heißt das Buch "Room to Dream", Raum, um zu träumen - auf Deutsch erscheint es unter dem Titel "Traumwelten. Ein Leben". Tatsächlich stammen Lynchs Ideen, wie jene zu "Ronnie Rocket", aus einer eigenen, surrealen Traumwelt. Damit hat er sich den Rausschmiss aus dem einen oder anderen Produzentenbüro eingehandelt.
Es ist nicht so, als sei über den Regisseur, dessen Filme voller ungeklärter Rätsel sind, bislang wenig geschrieben worden. Mit diesem neuen Buch kommen noch mal satte siebenhundert Seiten dazu. Und natürlich wird man auch in ihnen nicht das finden, worauf Fans seit jeher warten: Antworten auf die drängende Frage, was denn nun wirklich passiert ist in Filmen wie "Lost Highway" und "Mulholland Drive", in denen die Figuren abrutschen in die dunklen Fugen des Unbewussten, verloren gehen zwischen mehreren Persönlichkeiten und verwirrend unterschiedlichen Versionen ihrer Existenz. Lynch sucht nie nach Erklärungen. "Mir gefällt es, tiefer und tiefer in ein Haus vorzudringen und unter all den Dingen dort neue Dinge zu entdecken", sagt er stattdessen einmal in seiner Autobiografie.
So gehen nun auch McKenna und Lynch vor: Sie decken ein Detail ums andere auf - allerdings nicht in den Sinnschichten von Lynchs Filmen, sondern in seinem Leben. Aus dem hat Lynch schon in der 2016 erschienenen Dokumentation "The Art Life" erzählt. "Traumwelten" zeichnet sich demgegenüber aber durch einen besonderen Detailreichtum aus. In jedem Kapitel erzählt zunächst McKenna von Lynch, die seine Familienmitglieder, Freunde, Partnerinnen, Schauspieler und Mitarbeiter interviewt hat. Dann ergänzt Lynch das Erzählte um eigene Erinnerungen. So werden chronologisch die Stationen von Lynchs Leben abgegangen. Wenn auf diese Weise auch keine Rätsel gelöst werden, steht man am Ende doch mit einem Schlüssel zu seinem Werk da und kann sich vieles darin aus konkreten Lebens- und Arbeitssituationen erklären. Vor allem aber aus der spirituellen Haltung dieses Regisseurs.
Sein Leben beginnt in der Kleinstadt Boise, Idaho, wo Lynch seine Kindheit verbringt. Die Eltern sind freundlich und liberal. Mit trockenem Humor erinnert sich Lynch aber auch, wie sein Vater einmal so lange auf einen Kleiderhaufen einschlug, bis eine tote Maus herauskullerte. Oder wie er selbst im Sommer versuchte, mit einer Spitzhacke eine verwesende Kuh zum Explodieren zu bringen: "Na ja, Kinder probieren halt gerne mal was aus."
Später erzählte er in "Blue Velvet" und der Fernsehserie "Twin Peaks" von Brutalität und Perversion hinter den idyllischen Fassaden amerikanischer Kleinstädte. Da scheinen auch einige Kindheitserinnerungen eingeflossen zu sein.
Als Jugendlicher geht Lynch zu den Pfadfindern, später tritt er einer Studentenverbindung bei. Als ihm ein Freund erzählt, dass sein Vater Maler ist, realisiert er, dass es das ist, was er mit seinem Leben tun will. 1967, während er in Philadelphia an der Kunstakademie studiert, kommt ihm die Idee, Filme zu machen. Als er an einem Gemälde arbeitet, "bemerkte er etwas, das er als einen Windhauch beschrieb, und sah, wie sich die Oberfläche der Farbe bewegte. Als wäre es eine Botschaft aus dem Äther gewesen, kam ihm auf einmal die Idee für ein sich bewegendes Gemälde." Daraufhin dreht Lynch zwei Animationsfilme, bekommt ein Stipendium vom American Film Institute und zieht nach Los Angeles, um "Eraserhead" zu drehen.
In vielen kleinen Geschichten erzählt, wirkt auch Lynchs Leben wie ein Bild, das von einem Windhauch erfasst worden ist und sich zu bewegen beginnt. Der Detailreichtum des Textes enthüllt einen seinerseits von Details besessenen Künstler. Bei den Dreharbeiten zu "Blue Velvet" platziert er Staubflusen unter einem Heizkörper und bei "Lost Highway" Kaffeebohnen in einer dunklen Ecke. Für den Fall, dass die Kamera diesen Winkel einmal in den Blick bekommt.
Die Geheimnisse in Lynchs Filmen, so stellt sich heraus, bestehen weniger aus vorgefassten Konzepten, sondern entstehen durch Spiel und Improvisation. Lynch arbeitet mit dem, was er konkret vor sich hat. Als es beim Außendreh zu "Lost Highway" in einer Szene, in der es nicht regnen darf, doch regnet, engagiert Lynch kurzerhand ein paar Kinder, die sich mit Wasserschläuchen nass spritzen: "So sah es aus, als käme das Wasser aus den Schläuchen und nicht vom Himmel."
Und Bob, die berühmte, dämonische Figur aus "Twin Peaks", stand gar nicht im Skript und wurde erst beim Drehen erfunden: In einem Take sieht man aus Versehen einen Requisiteur in einem Spiegel - Lynch ist begeistert und fragt den Mann, ob er nicht in der Serie mitspielen wolle.
Die Dinge des Lebens erschienen David Lynch offenbar wie vorherbestimmt - er musste sie nur noch entdecken
"Traumwelten" handelt von einem Künstler, der die ganze Zeit an irgendetwas herumbastelt. Der Filmemacher arbeitet auch als Maler, Werbefilmer, Möbelbauer, Musiker. Bei den Dreharbeiten zum Megaprojekt "Dune", während er Hunderte Statisten in der sengend heißen mexikanischen Wüste befehligt, findet er nebenher die Zeit, ein "Fish Kit" zu basteln: Er zerlegt eine Makrele in Einzelteile und beschriftet sie, um ihre Wiederzusammensetzung zu ermöglichen. Die Bastelei hört auch bei der Arbeit an der eigenen Biografie nicht auf. Wie der Makrele geht es einigen Berühmtheiten, die Lynch in seinen Erinnerungen zerlegt und neu zusammensetzt, so dass sie in einem absurden Licht dastehen.
Zum Beispiel Marlon Brando. Der steht einmal vor Lynchs Haus in Los Angeles und verlangt etwas zu essen. Lynch serviert ihm eine Tomate und eine Banane, die Brando konzentriert verschlingt. Später stopft sich Brando bei einer Vorführung von "Lost Highway" mit Fastfood und Süßigkeiten voll.
Neben solchen Anekdoten erscheint doch auch vieles redundant in diesem Buch, vor allem, wenn Kristine McKennas Tonfall ins Hagiografische abdriftet. Dass Lynch, bei aller Dunkelheit und Brutalität seiner Filme, der netteste Kerl der Welt ist, mit dem alle gerne zusammenarbeiten, hat man irgendwann oft genug gelesen. Bringt ihm ein Assistent auch nur eine Tasse Kaffee, bedankt er sich vielmals. Schön zu hören.
Seit der Arbeit an "Eraserhead" betreibt Lynch die sogenannte Transzendentale Meditation, die er auch mit einer Stiftung und mit Vortragsreisen bewirbt. Offenbar hat sie ihn zu einem ausgeglichen Wesen gemacht und ihm die Ideen der Wiedergeburt und der Vorbestimmung nahegebracht. Darauf und auf eine Grundentspanntheit, die sein Leben begleitet habe, kommt er immer wieder zu sprechen.
Die Dinge des Lebens erschienen ihm offenbar wie vorbestimmt - er musste sie nur noch entdecken. Nicht er selbst wollte Maler werden, sondern seine Begegnung mit dem Sohn eines Künstlers hat ihn seinem Lebenssinn nahegebracht; später fiel ihm die Erkenntnis zu, er müsse Filme machen. Lynch tritt also weniger als genialer Schöpfer und Visionär auf. Vielmehr als ein Lausbub aus Idaho, der nichts weiter tun muss, als fröhlich werkelnd und bastelnd die vielfältigen Kulissen einer Künstlerexistenz zu erkunden, die schon immer auf ihn gewartet hat. Es geht Lynch in seiner Autobiografie nicht um Lynch. Es geht ihm ums Universum, das ihm seinen Platz als Starregisseur zugewiesen und ihn eingeladen hat, dessen dunkelste und rätselhafteste Winkel zu erforschen.
In "Ronnie Rocket", seinem nie realisierten Drehbuch, bringt Lynch seine Philosophie auf eine Formel: "Das Leben ist ein Donut." Es ist harmonisch und in sich geschlossen. Man kann sich nicht aussuchen, als was man auf diese Welt kommt oder wiedergeboren wird, ob als Donut oder als David Lynch. Aber man kann von verdammtem Glück sprechen, wenn es zu Letzterem gekommen ist. Da kann man sich schon mal nett für jeden Kaffee bedanken, der einem gebracht wird.