Süddeutsche Zeitung

Film und KI:Durch den Nebel der Zeit

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Künstliche Intelligenzen polieren historische Filmaufnahmen wie die legendäre Bahnhofsszene der Lumière-Brüder von 1895.

Von Bernd Graff

Zu den ältesten Filmdokumenten der Menschheit gehört die knapp 50-sekündige "Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof La Ciotat", den die Gebrüder Auguste und Louis Lumière 1895 gedreht haben. Uraufgeführt in einem Pariser Café, soll die realistische Bewegtbildsequenz das Publikum damals in Panik versetzt haben, weil es fürchtete, der Zug würde in ihr Café rauschen. Das tat er dann nicht.

Doch die Szene bleibt ungeheuerlich. Man sieht sie heute wie mit den Augen eines Anthropologen, der Menschen einer fremdartigen Kultur beobachtet. Kleidung, Technik, Gepäck und Gebaren wirken unwirklich wirklich. Ganz abgesehen davon, dass der zeitgenössische Betrachter weiß, dass keiner der im Film abgebildeten Menschen mehr lebt, nicht einmal das Kleinkind, das von zwei verschleierten Damen gehalten wird. Man erfährt den Schauder einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Doch wie bei allen alten Filmen entspricht dessen Bildqualität nicht mehr unseren Sehgewohnheiten. Das Material ist schwarz-weiß, stark gekörnt, heutige Abspulgeschwindigkeiten machen die Menschen zu ungelenk hampelnden Charlie-Chaplin-Figuren.

Dieses Manko hat den Filmregisseur Peter Jackson 2018 dazu gebracht, das historische Material für seinen Dokumentarfilm über den ersten Weltkrieg, "They Shall Not Grow Old", mithilfe von Computern nachzukolorieren, um so durch "den Nebel der Zeit zu langen" und die Menschen von damals in die Gegenwart zu holen.

Denis Shiryaev, ein russischer Youtuber, hat nun auf seinem Kanal gezeigt, was herauskommt, wenn man das Material der Lumière-Brüder von einer künstlichen Intelligenz auf heutige Sehstandards hochrechnen lässt. Dazu hat er die Algorithmen neuronaler Netzwerke, die Software "Gigapixel AI" der Topaz Labs und "Dain", eine von Google entwickelte Technik zur Errechnung von Bildern, genutzt, um aus dem Original eine Kopie in 4-K-Auflösung bei 60 Bildern pro Sekunde (fps) statt der ursprünglichen 16 fps zu erzeugen.

Das Ergebnis ist immer noch schwarz-weiß und zeigt KI-typische Artefakte. Es wirkt aber so, als habe eine Go-Pro von heute ein befremdliches historisches Reenactment in pingelig genauer, aufwendigster Ausstattung beiläufig abgefilmt. Und, ja, diese neue Unmittelbarkeit ist auch wieder zum Fürchten.

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Quelle:
SZ vom 06.02.2020
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