Film: "The Hangman":"Noch einmal würde ich das nicht machen"

Er kostete sein Essen vor, er brachte ihn auf die Toilette - er tötete ihn: Ein Dokumentarfilm begleitet den Mann, der das Todesurteil an Adolf Eichmann vollstreckte. Ein Höhepunkt des Jüdischen Filmfestivals in Berlin.

Thorsten Schmitz

Seelenruhig schleift Schalom Nagar ein Messer, die Kamera zoomt auf seine dicken Finger, Blut klebt an ihnen. Im Hintergrund hört man Hühner gackern. Die Finger greifen in einen Käfig, sie grapschen ein aufgeregtes Huhn, und während Nagar ein Gebet murmelt, rupft er Federn vom Hals.

ADOLF EICHMANN

Adolf Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem. Der Dokumentarfilm "The Hangman" begleitet den Mann, der das Todesurteil an Eichmann vollstreckte.

(Foto: AP)

"Noch eine Minute, und du bist im Paradies", sucht Schalom Nagar das Tier zu beruhigen. Immer, wenn er ein Tier schächtet, sagt er diesen Satz.

Dann setzt er das geschärfte Messer an die federfreie Stelle. Man hört, wie der Hals durchtrennt wird, man sieht, wie Blut auf den sandigen Boden fließt. Die Halsdurchtrennung selbst sieht man nicht.

Mit dieser Szene beginnt der faszinierende israelische Dokumentarfilm "The Hangman" (Der Henker) von Netalie Braun, der jetzt auf dem Jüdischen Filmfestival in Berlin seine Deutschlandpremiere hatte. Es ist ein Film, der einem noch lange in Erinnerung bleibt.

Schalom Nagar schächtet Tiere, das ist sein Beruf. Einmal in seinem Leben hat er einen Menschen getötet, das ist sein Fluch.

Am 31. Mai 1962 richtete Schalom Nagar in einem Gefängnis in Ramle nahe Tel Aviv den NS-Massenmörder Adolf Eichmann hin, den der israelische Geheimdienst zwei Jahre zuvor nach Israel entführt hatte. Ein halbes Jahr lang hat Nagar Eichmanns Essen vorgekostet, um auszuschließen, dass ihn jemand vor der Urteilsverkündung vergiftet. Er hat ihn auch auf die Toilette begleitet.

Schalom Nagar sitzt in seiner Küche, seine Frau ihm gegenüber, man löffelt die letzte Suppe vor Beginn des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur, an dem man Rechenschaft vor Gott ablegt, und aus dem Off hört man, wie Schalom Nagar sagt: "Wenn man einen Menschen sechs Monate lang Tag und Nacht begleitet, dann nähert man sich aneinander an."

Alle wollten. Nur Schalom Nagar nicht.

Mit Absicht wurde Adolf Eichmann nicht von askenasischen, also aus Europa stammenden Gefängniswärtern bewacht, sondern von Sepharden wie Schalom Nagar, die aus dem Jemen stammten und den Holocaust nur aus Erzählungen kannten. Die Justiz wollte vermeiden, dass ein askenasischer Gefängniswärter, dessen Familienangehörige im Holocaust umgekommen sind, Rache an dem Massenmörder üben könnte. Eichmann ist der einzige Mensch, der je von der israelischen Justiz hingerichtet worden ist. Als das Gericht das Todesurteil über Eichmann verhängte, ging es darum, wer es vollstrecken soll. Alle Wärter wollten, nur Schalom Nagar nicht.

Es wurde gelost. Die Wahl fiel auf Schalom Nagar.

So legte er am 31. Mai 1962 um kurz vor Mitternacht Eichmann eine Schlinge um den Hals. Wortlos, ohne den Satz vom Paradies, betätigte er den Hebel, der die Falltür öffnete - und erschrak über die Luft, die aus Eichmanns Magen über den Mund entwich. Nagar kam es vor, als brabbele der Holocaust-Organisator.

Als Schalom Nagar in dieser Nacht nach Hause fuhr, zitterte er am ganzen Körper. Seine Frau war entsetzt und fragte, von wo das Blut auf seiner Uniform stamme: "Wo warst du? Ich dachte, du warst arbeiten!"Schalom Nagar sagte: "Stell das Radio an, dann weißt du, was ich getan habe."

Nagar ist heute 75 Jahre alt und lebt mit seiner Frau in Holon bei Tel Aviv. Er sagt: "Einmal habe ich das getan, noch einmal würde ich das nicht machen."

Ein Jahr lang hatte er nach der Hinrichtung Albträume. Die Bilder der Leiche Eichmanns verfolgten ihn. Trost fand er in der Religion. Der Jemenit wurde zum Ultra-Orthodoxen, fing an zu beten, ließ sich Schläfenlocken wachsen, verzichtete auf Autofahrten am Schabbat, begann, zu schächten, rituell zu schlachten. Ausgerechnet. Und in all den Jahrzehnten, die seit der Hinrichtung vergangen sind, hat Schalom Nagar nie wieder über Eichmann geredet. Bis er eines Tages einen Anruf von Netalie Braun bekam, die selbst einmal religiös war und heute Filme dreht. Drei Jahre lang begleitete sie ihn für den Film, im ersten Jahr ganz ohne Kamera, weil Nagar sich anfangs nicht filmen lassen wollte.

Der Film begleitet Nagar bei intimsten Momenten, beim Gebet, im Krankenhaus beim krebskranken Sohn, wenn er weint, wenn er derbe Witze reißt. Und der Film bricht mit einem Klischee: dass alle Ultra-Orthodoxen rechte Einstellungen hegten. In einer bemerkenswerten Szene sagt Schalom Nagar zu seiner Frau: "Juden und Araber sind gleich. Araber sind Menschen wie wir."

Als Nagar sich das erste Mal im Film sah, erschrak er, sagt die Regisseurin. Inzwischen begleitet er jede Aufführung in Israel und tut, was er jahrzehntelang nicht getan hat: Er redet.

Nur zur Premiere nach Deutschland wollte er nicht. Eine Stunde vor der Aufführung rief er Netalie Braun an und sagte, sie solle achtgeben vor Nazis.

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