Thriller:"Remainder" im Kino: Wie ein böser Traum

Szene aus dem Film "Remainder"

Gesichtslos, aber mit Pistole: Statisten sollen in "Remainder" einem Mann ohne Gedächtnis helfen, die Vergangenheit zu rekonstruieren.

(Foto: Piffl Medien)

Dem israelischen Videokünstler Omer Fast ist mit dem Thriller ein famoses Kinodebüt gelungen. Ein Film über Wahn und Wirklichkeit in der vernetzten Gegenwart.

Von David Steinitz

Es war einmal eine Rinderleber, die in einer gusseisernen Pfanne mit etwas zu viel Hitze vor sich hin briet. Ihr fleischiger, fast schon verbrannter Geruch zog durch die Gänge eines weitläufigen Mietshauses, vorbei an einer Wohnung, in der ein älterer Herr sich am Klavier versuchte - Chopin -, weiter das Treppenhaus hinauf - und hinein in die Nase eines jungen Mannes.

Genau dort sitzt der Gestank zu Beginn des Thrillers "Remainder" fest, fettig und verwest stinkt es im Kopf des Protagonisten Tom (Tom Sturridge), und es stinkt bis in die Köpfe der Zuschauer.

Was findigen Hollywood-Gauklern mit olfaktorischen Pilotprojekten wie dem Aroma-Rama und der Smell-O-Vision in 121 Jahren Filmgeschichte nie recht gelungen ist, schafft der israelische Videokünstler Omer Fast in seinem Kinodebüt ganz ohne Zusatzstoffe: Er kitzelt durch seine Geschichte die Sinne der Zuschauer und beschwört damit einen Albtraum.

"Remainder" beruht auf dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Tom McCarthy aus dem Jahr 2005, der in Deutschland unter dem Titel "8 ½ Millionen" erschienen ist.

Das Buch erzählt von einem Mann, der bei einem Unfall sein Gedächtnis verloren hat. Ein schwerer Gegenstand ist durch das Glasdach eines sterilen Londoner Großstadtkomplexes gerauscht und auf seinen Kopf gekracht.

Der Film ist als Acht angelegt: Anfang, Ende, Eingang, Ausgang gehen ineinander über

Es folgen Monate im Krankenhaus, in der Reha. Wie ein Kleinkind muss er wieder lernen zu essen, zu sprechen, zu laufen, was Buch und Film aber im Schnelldurchlauf absolvieren. Denn die schwersten Konsequenzen des Vorfalls sind nicht physischer, sondern psychischer Natur.

Tom erinnert sich nicht mehr an sein vorheriges Leben, nur einzelne Bruchstücke sind geblieben und haben sich festgebissen. Puzzleteile seiner Vergangenheit, wie der Geruch von Leber in einer Pfanne und das Chopin-Geklimpere, die als Déjà-vus durch seinen malträtierten Kopf geistern, immer und immer wieder. Ein ganzes Leben, reduziert auf ein paar Erinnerungsfetzen. Tom muss herausfinden, wer er eigentlich ist.

Während der Roman diese Geschichte in linearer Form erzählt, hat Omer Fast seine Adaption als Acht, also als Endlosschleife angelegt: Anfang, Ende, Eingang, Ausgang - was hier was und wo ist, bleibt unklar und verursacht bei der Hauptfigur und beim Zuschauer einen Hirnknoten.

Zynischer Kommentar auf das Verhältnis zwischen Mensch und Realität im Jahr 2016

Thriller: Als Tom (Tom Sturridge, rechts) glaubt, sich an einen Banküberfall zu erinnern, lässt er ihn nachstellen.

Als Tom (Tom Sturridge, rechts) glaubt, sich an einen Banküberfall zu erinnern, lässt er ihn nachstellen.

(Foto: Piffl Medien)

Der 44-jährige Fast, der in Berlin lebt und schon in der halben Welt ausgestellt hat, hat sich in seinen Videoinstallationen bereits ausführlich mit Loops und mentalen Möbiusschleifen beschäftigt.

Das ist von großem Vorteil, weil unzählige Regisseure, die auf den Spuren von begabten Erinnerungsirrgärtnern wie David Lynch wandeln wollten, kläglich am Genre des surrealistischen Kinothrillers gescheitert sind.

Omer Fast aber schürt die Verwirrung des Zuschauers nicht der bloßen Verwirrung wegen, sondern um in seine Thrillerhandlung eine gnadenlose Gegenwartspsychoanalyse einzuweben.

Der Versuch seines tragischen Helden, seine dubiose Vergangenheit zu erforschen, ist auch ein zynischer Kommentar auf das Verhältnis zwischen Mensch und Realität im Jahr 2016.

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat ein Trauma als eine Begegnung mit dem Realen bezeichnet, das sich der konkreten Bezeichnung entzieht, und mit dieser Prämisse spielt auch Fast: "Wir haben alle technischen Mittel, die Realität einzufangen. Aber während wir so der Realität Herr werden, verbringen wir eigentlich immer weniger Zeit in ihr" - und über dieses Phänomen wollte er seinen Spielfilm drehen.

Glück im Unglück

Tom bekommt von der Firma, die an seinem Unfall schuld ist, die unglaubliche Summe von achteinhalb Millionen Pfund als Schadenersatz überwiesen. Einzige Bedingung: Er darf nie mehr über den Vorfall sprechen - was für einen Gedächtnislosen kein allzu großer Einsatz ist.

Sein Anwalt ist begeistert, lässt Champagner bringen, jetzt könne er doch ein luxuriöses Leben in der Ferne ganz nach Lust und Laune führen, was für ein Glück im Unglück!

Statisten mit Strumpfmasken müssen die nebulöse Vergangenheit nachspielen

Mit dem Geld aber macht Tom sich nun zum verzweifelten Regisseur seines eigenen Lebens: Er möchte seine penetranten Déjà-vus so lange nachinszenieren, bis sie sich ordnen lassen und der Erinnerungsnebel sich lichtet. Dazu engagiert er den adretten Consulting-Mann Naz (Arsher Ali), der mit seiner Firma "Time Control" wohlhabenden Kunden alle exzentrischen Wünsche erfüllt und ohne moralische Vorbehalte in seinem Tablet notiert, was zu tun ist.

Für Tom findet er ein Mietshaus wie jenes aus seiner Erinnerung; er sucht ihm Menschen, die darin wohnen, Leber braten und Chopin spielen, als überbezahlte Statisten eines Lebens, von dem man nicht weiß, ob es so wirklich stattgefunden hat. Er findet auch schwarze Katzen, ganz ähnlich denen, die Tom glaubt, von diesem Haus aus auf einem Nachbardach gesehen zu haben, und als eine nach der anderen kläglich vom Dach fällt, beschafft er umgehend Nachschub.

Er zieht den Personen, deren Tom sich nur unscharf entsinnen kann und die trotzdem durch seine Erinnerungswälder geistern, bunte Strumpfmasken über und lässt sie als gesichtslose Statisten durchs Haus geistern, Treppe rauf, Treppe runter.

Er ist sogar bereit, Tom beim Nachstellen eines Banküberfalls behilflich zu sein, als dieser plötzlich glaubt, sich an eine solche Tat zu erinnern. Immer wieder steht am Ende seiner Déjà-vus ein kleiner Junge im blauroten Anorak, den Tom glaubt, als Schlüsselfigur zu seinem Geheimnis identifizieren zu können, und jeder Ort, an dem er ihn zu sehen scheint, muss nachgebaut, ausstaffiert und mit Darsteller-Personal versehen werden. Auch wenn das immer öfter zu blutigen Kollateralschäden führt.

Vergangenheit oder böser Traum

Je mehr Tom glaubt, seine Vergangenheit greifen zu können, desto undurchsichtiger wird sie. Je mehr er wie ein Besessener versucht, sie auf Kosten anderer Menschen nachbauen zu können, desto weniger ist klar, ob es sich tatsächlich um seine Vergangenheit handelt oder um einen bösen Traum, den er gerade wahr werden lässt.

Ändert sich der Traum, muss die Wirklichkeit angepasst werden, doch das große Problem mit dieser Realität ist, dass sie nach und nach so verdammt unglaubwürdig geworden ist.

Remainder, GB/D 2015 - Regie, Buch: Omer Fast, nach dem Roman von Tom McCarthy. Kamera: Lukas Strebel. Schnitt: Andrew Bird. Mit: Tom Sturridge, Arsher Ali, Cush Jumbo, Ed Speleers, Shaun Prendergast. Piffl Medien, 104 Minuten.

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