Netflix-Western:Ein glorioser Bastard von einem Film

Netflix-Western: "Seht meine Werke, Mächt'ge, und erbebt!": Mr. Arthur (Grainger Hines) zeigt, wie man in der Prärie überlebt.

"Seht meine Werke, Mächt'ge, und erbebt!": Mr. Arthur (Grainger Hines) zeigt, wie man in der Prärie überlebt.

(Foto: Netflix)
  • Der neue Film der Brüder Coen wurde von Netflix finanziert.
  • "The Ballad of Buster Scruggs" ist das erste Segment eines sechsteiligen Episodenfilms der Coens.
  • Die Short Stories in ihrem sechsteiligen Episodenfilm sind reich an Unterströmungen, die einen noch lange nach ihrem Ende mitziehen.

Von Tobias Kniebe

Die Felstürme des Monument Valley ragen in die Morgenluft, und von den Steilwänden widerhallt eine einsame Männerstimme. "Kühles, klahaares Wasser" singt sie, sehnsüchtig gedehnt im Refrain, eine Gitarre spielt dazu, ein weißes Pferd trottet exakt im Takt. Ganz in Weiß ist auch der Sänger in Cowboy-Montur, die Krempe seines Huts strahlt mit seinen Zähnen um die Wette, und nach dem Ende des Songs zügelt er sein Pferd und grinst direkt in die Kamera. Gestatten, Buster Scruggs, so manchem hier bekannt als der "Singspatz von San Saba". "Ist es nicht so, alter Dan?" Der alte Dan wiehert seine Zustimmung.

So mancher würde sich einfach nur wundern, wenn er in den Zufällen der Zapppingwelt einmal auf einen dieser singenden Cowboys stößt - Roy Rogers, anyone? -, die in den Dreißigerjahren amerikanische Superstars und kulturelle Giganten waren, bevor sie aus jeder Erinnerung getilgt wurden, verdrängt wie eine schlimme kollektive Psychose. Kurz auflachen und die Sache vergessen. Die Brüder Joel und Ethan Coen aber funktionieren anders. Sie lachen kurz auf und sehen sich dann an und müssen es gar nicht mehr aussprechen, denn die Sache ist zwingend und klar: So einen müssen wir, eines schönen Tages, auch mal schreiben ...

Die Sprache so verquer und gestelzt wie in Westernromanen auf billigem Papier

Dieser Tag ist nun gekommen, auch wenn es, wie man hört, fünfundzwanzig Jahre gedauert hat. "The Ballad of Buster Scruggs" ist das erste Segment eines sechsteiligen Episodenfilms der Coens, finanziert von Netflix, weil keiner sonst es machen wollte. Das Sammelwerk ist über sehr lange Zeit aus sehr seltsamen Inspirationsfunken entstanden, die alle irgendwie mit dem alten Westen Amerikas zu tun haben. Da ist die Gier nach Gold, fast physisch fühlbar, in manchen Erzählungen von Jack London; da ist der Irrsinn des Tiefenraums, fast physisch greifbar, in manchen Einstellungen von Sergio Leone; und da sind diese alten Westernromane auf Billigpapier, deren Sprache so verquer und gestelzt ist, dass sie schon wieder sagenhaft poetische Wucht hat.

Der seltsame und gloriose Bastard von einem Film, der daraus entstanden ist, beginnt nun mit dem seltsamen Bastard Buster Scruggs, brillant verkörpert von Tim Blake Nelson. Und der ist wirklich psychotisch, schier berstend vor Jovialität und Freude an seinen eigenen, wild gedrechselten Formulierungen, Cheerleader einer mörderischen Selbstsicherheit, die ihm der Revolver an seiner Hüfte verleiht. Sangesfreude und Sprachgewalt kommt im Wilden Westen nicht überall gut an, aber Buster zieht einfach schneller, und so endet fast jeder Disput mit einem improvisierten Spottlied auf den Stinkstiefel, den er gerade erledigt hat.

Den Rest muss man sich, wie so oft bei den Coen-Filmen, allerdings dazudenken. Steht Buster für ein ganzes Land, dessen zwanghafte Jovialität einst etwas schwer Psychotisches hatte, dessen mörderische Selbstsicherheit im Rückblick wie ein böser Witz erscheint, auch wenn die Welt den Refrain gern mitgesungen hat? Das muss nicht benannt, es muss nicht einmal entschieden werden. Die Coens gehören zur aussterbenden Gattung der Künstler, die sich tatsächlich von ihren Inspirationsfunken noch treiben lassen, wo immer sie auch hinführen mögen, so wenig erhebend und weltverbessernd und inklusionsfördernd das dann auch ist.

Beim Festival von Venedig, wo der Film Premiere hatte, fanden viele Kritiker diese Geschichten ein wenig zu lakonisch und pointenfixiert und folgenlos. Buster Scruggs etwa kann ja nicht ewig der Schnellste sein, eines Tages hat auch er ein rundes schwarzes Loch in der Stirn, seine Seele steigt mit digitalen Engelsflügelchen zum Himmel auf, und das war's dann - die nächste Episode beginnt. Aber wenn man sie spüren will, sind diese Short Stories reich an Unterströmungen, die einen noch lange nach ihrem Ende mitziehen ...

Und natürlich ist es nicht wirklich ein Film über den alten Westen. Der ist uns, jüdischen Vorortkids aus Minnesota, ja nie begegnet, würden die Coen-Brüder wahrheitsgemäß sagen. Was ihnen begegnet ist, sind Westernszenen in Wort und Bild, und selbst die haben die Sehnsucht geweckt, das alles wenigstens einmal selbst zu bereisen und zu inszenieren: das einsame Bankhaus mitten in der Prärie, das nur darauf wartet, überfallen zu werden; der Planwagentreck durchs endlose Hügelland; die großen, angstgeweiteten Augen einer jungen Pioniersfrau (Zoe Kazan); oder der Irrsinn in der Stimme eines alten Goldgräbers (Tom Waits), der im schönsten einsamen Tal auf Gottes Erdboden schuftet und zum Reden doch nur sich selber hat.

Lohnt es sich, dieser mitleidlos grandiosen Natur immer wieder eine Moral abzuringen?

Für diese Bilder sind sie unermüdlich umhergezogen, im Sommer und Winter, von Nebraska bis New Mexiko, vom Monument Valley bis zur Farm der Künstlerin Georgia O'Keeffe. Visuell sieht das alles umwerfend aus, hochauflösend fotografiert von Bruno Delbonnel. Doch lohnt sich die Mühe, könnte man fragen, wenn man die Uraufgabe des Westerns gar nicht akzeptieren will - diesen mitleidlos grandiosen Landschaften immer wieder eine menschliche Moral abzuringen?

Aber ja doch, auch wenn manchmal nicht mehr bleibt als ein genialer Moment. James Franco etwa spielt einen Banditen, der seiner letzten Aufknüpfung durch ein paar überraschende Indianerpfeile gerade noch entgangen ist. Wenig später steht er allerdings schon wieder mit drei anderen Verdammten auf einem Schafott, die Schlinge um den Hals. Und das theatralische Wimmern nebenan verwundert ihn, den frischgebackenen Routinier, dann doch. "Das erste Mal?", fragt er mitfühlend, ein großer Lacher. Sekunden später: schwarze Kapuze, Blackout, großer Rumms, Schlinge zu. Applaus der Schaulustigen, Ende der Episode.

Wirklich in Erinnerung bleiben wird, und zwar lange, "Professor Harrison", ausweislich seiner Plakatanschläge auch die "schwingenlose Singdrossel" genannt. Ein grüner Brokatvorhang öffnet sich, da ist er, arretiert auf einem gepolsterten Schemel: ein junger Mann ohne Arme und Beine, festlich gekleidet, mit Fliege und Schärpe, das Haar wild aufgetürmt über großen Ohren, die Wangen bleich geschminkt mit etwas Rouge, die Augenbrauen mit Kohle nachgezogen. Er blickt theatralisch gen Himmel, woher nun die Macht großer Dichtkunst in ihn herabfährt, und beginnt im schönsten britischen Bühnenenglisch zu deklamieren: "Ein Wandrer kam aus einem alten Land ..."

Ein Torso, ganz Stimme, Orator, Rhetor, Botschafter des Geistes und des mächtigen Wortes, der Besserung und Erhebung durch die Kunst. Ein Häuflein Zuhörer sitzt fröstelnd vor seinem Bühnenwagen und lauscht, am Ende wird sein Impresario und Pfleger den Hut herumgehen lassen, so geht das von Abend zu Abend, von Kaff zu Kaff, so überleben die beiden mit ihrem Pferd und Wagen. Abseits der Bühne aber sagt der Jüngling kein Wort. Sein Gesicht ist eine einzige Frage, ein einziger Vorwurf.

Lebt er allein für die Kunst und die Verse, die er spricht? Für Percy Shelley und die Sage von Ozymandias, King of Kings, für das Tremolo an der dramatischsten Stelle, bei den in Stein gemeißelten Worten: "Seht meine Werke, Mächt'ge, und erbebt!" Da ist ein Blinken in seinen traurigen Augen, eine Freude am Erbeben der Zuhörer. Auch die Bibel rezitiert er, die Genesis mit Kain und Abel, und Shakespeare, "Der Sturm", die traurigen Sonette: "Wenn ich, von Gott und Menschen übersehn / Mir wie ein Ausgestoßener erscheine ..." Er endet jedes Mal mit der "Gettysburg Address", mit der Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, die nicht vom Erdball verschwinden möge ...

Gespielt wird der Jüngling von Harry Melling, den man erst nicht einordnen kann, bis man merkt, dass er Dudley Dursley war, der fiese verwöhnte Junge, der Harry Potter immer das Leben zur Hölle gemacht hat. Inzwischen ist er erwachsen und hat stark abgenommen, aber dem Schicksal, von Millionen Potter-Fans gehasst zu werden, entkommt er natürlich nicht. Zu allem Überfluss stehen seine Augen außergewöhnlich eng zusammen, was sowohl die Harry-Potter-Macher als die Coen-Brüdern nutzen, für einen beunruhigenden, gequälten Effekt. Liam Neeson dagegen, der den Impresario spielt, trägt einen Bärenfellmantel und eine Aura von brutaler Unzerstörbarkeit.

Dann kommt der Winter wirklich, die letzten drei verbliebenden Zuhörer ernähren niemanden mehr, und als der Impresario eines Abends einen Volksauflauf vor einem anderen Planwagen sieht, nimmt alles eine fatale Wendung. Ein rechnendes Huhn ist es, das die Massen anzieht, "Gallus Mathematicus" sein Name, man stellt ihm eine Aufgabe, es pickt die korrekte Zahl, die Menge johlt. Am nächsten Morgen, der große Orator hat das alles nicht mitbekommen, reist plötzlich das Huhn im Planwagen mit, es wird gut gefüttert, besser als er, und das Ende ... ein grausameres Ende hat die Macht des Wortes, die Besserung und Erhebung durch die Kunst noch selten erfahren.

Man rätselt, was das bedeuten soll, ob solche Grausamkeit wirklich sein muss, und der traurige Blick der schwingenlosen Singdrossel verfolgt einen bis in die Träume. Haben die Coen-Brüder, zwei Unerschrockene, die selbst nicht im Geschäft mit rechnenden Hühnern sind, da kurz in den Abgrund geschaut, in den Orkus der absoluten Vergeblichkeit, auch ihrer eigenen Anstrengungen? Und akzeptieren sie, was sie dort gesehen haben? Wer weiß. Auf jeden Fall hatten und haben sie noch Lust auf die nächste Episode, und auf die übernächste. Große Lust sogar. Und das ist am Ende alles, was zählt.

The Ballad of Buster Scruggs, USA 2018 - Regie, Buch, Schnitt: Joel und Ethan Coen. Kamera: Bruno Delbonnel. Musik: Carter Burwell. Mit James Franco, Brendan Gleeson, Zoe Kazan, Liam Neeson, Tim Blake Nelson, Tom Waits, Harry Melling. Auf Netflix, 133 Minuten.

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