Süddeutsche Zeitung

Film:Inspiration? Transpiration!

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Der Bildband "The Charlie Chaplin Archives" zeigt, wie Chaplins Filme entstanden sind - und das ist nicht nur lustig.

Von David Steinitz

Mein Ego bestimmt mein Leben mehr als jedweder moralische Kodex", schrieb Charlie Chaplin in seiner Autobiografie. Zwar wurde sie nie veröffentlicht, aber ein Auszug aus diesem Selbstzeugnis eines manisch-begnadeten Filmemachers ist in dem opulenten Bildband "The Charlie Chaplin Archives" zu lesen. Nachdem der Taschen-Verlag mit den "Stanley Kubrick Archives" und den "Ingmar Bergman Archives" bereits tief in die Nachlässe zweier Film-Legenden vorgedrungen ist, folgt mit Chaplin nun eine Hommage an das frühe Kino.

Ziel des Herausgebers Paul Duncan ist es zu zeigen, wie Chaplin seine Filme schuf. Die Klassiker natürlich, "Lichter der Großstadt", "Goldrausch", "Moderne Zeiten", "Der große Diktator". Aber auch das heute nicht mehr ganz so berühmte Früh- und Spätwerk wird, üppig bebildert, vorgestellt. Begleitet werden die Bilder von alten Chaplin-Interviews sowie Gesprächen zwischen dem Herausgeber und Experten. Im Band selbst sind die Texte im englischen Original zu lesen, ein beigelegtes Heft liefert die Übersetzungen ins Deutsche.

Das Leitmotiv des Chaplin'schen Schaffens ist die Schönheit. "Ich versuche", sagte Chaplin einst, "eine Schönheit zum Ausdruck zu bringen, die nicht nur physische Eigenschaften und Situationen umfasst, sondern die wirklich grundlegenden Gefühle des Menschseins."

Chaplins Biografie ist die Geschichte eines besessenen, durchaus narzisstischen Filmemachers, der seine Mitmenschen gnadenlos terrorisieren konnte, wenn er nicht bekam, was er wollte - beruflich wie privat. Gleichzeitig ist sie auch die Geschichte der modernen Unterhaltungsindustrie, jener Idee des magischen Orts Hollywood also, mit all seinem Glamour, auch mit all seinen Untiefen, die Chaplin mit erfand und prägte, wie nur wenige andere Regisseure und Schauspieler. Eine künstlerische Goldgräberzeit wird hier nachgezeichnet, als der Film sich durch das Kino als Spielstätte formal vom Varieté emanzipierte und inhaltlich noch genau mit jenen wilden Attraktionswerten der Jahrmärkte jonglierte, die ihn als Medium hervorgebracht hatten.

Chaplin war Genie und Tyrann, und er war einer der Erfinder der Grammatik des frühen Kinos

Chaplin gehört zu den genialsten, elegantesten Erfindern der Grammatik des Kinos, also seiner Bildsprache, die heute so selbstverständlich erscheint. Im Slapstick seiner berühmtesten Figur, des Tramps, der naiv, staunend und geprügelt durch die Welt schreitet, fasste Chaplin die Philosophie jedes großen Komikers pointiert zusammen. Dass nämlich "Komödie und Tragödie in Wirklichkeit nur eine Haaresbreite voneinander entfernt" sind. Was ihn als Künstler so erfolgreich macht, lernen wir in den langen Ausführungen über die Entstehungsprozesse seiner kurzen und langen Filme, war, dass er wusste, wie man dem Zuschauer Ambition, Sozialkritik, Melancholie schmackhaft macht: durch Entertainment. Natürlich wollte Chaplin berühren, kritisieren, auch seinen eigenen Ruhm immer weiter vergrößern. Aber er beherzigte stets, dass dies nie auf Kosten des Amüsements geschehen durfte. Weil er ein Perfektionist war, dessen Sehnsucht nach makellosem Timing ihn am Set und daheim oft zum Tyrannen mutieren ließ, gibt es auch diverse nie gedrehte oder unvollendete Werke, von denen in Chaplin-Biografien selten die Rede ist, und denen sich dieser Band ebenfalls widmet.

Hinter dem Mythos Chaplin steckte, darauf pochte der Meister immer wieder, knallharte Arbeit. Der elend schwere Versuch, flüchtige, kostbare Momente einzufangen, das schüchterne Lächeln des Tramps, die unbezähmbare Haarlocke in der Stirn eines Mädchens - all das kostete ihn unendlich viel Kraft. "Erzählen Sie mir nichts von Inspiration! Sprechen wir lieber von Transpiration!".

Paul Duncan (Hrsg.): The Charlie Chaplin Archives. Taschen Verlag, Köln 2015. 560 Seiten, 150 Euro.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2015
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