Süddeutsche Zeitung

Film:Gurken für alle

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In seinem Dokumentarfilm "Wunder der Wirklichkeit" erzählt Thomas Frickel vom verstorbenen Regisseur Martin Kirchberger, einem Pionier der Mockumentary.

Von Philipp Stadelmaier

22. Dezember 1991. An Bord der Propellermaschine, die an diesem vernebelten Tag vom Frankfurter Flughafen startet, ist ein Filmteam. Kurz vor Weihnachten soll in der Luft ein skurriler, pseudo-dokumentarischer Film gedreht werden, Titel: "Bunkerlow". Die Story: Eine Sicherheitsfirma lädt Interessierte auf einen Werbeausflug für Schutzbunker, die aus der Luft bombardiert werden sollen. Freunde, Familienmitglieder und Nachbarn der Filmcrew spielen die Kunden der Firma. Aber dann kommt es zur Katastrophe. Nicht im Film, sondern in der Realität. Die Maschine stürzt ab, in einem Wald in der Nähe von Heidelberg. Nur wenige überleben. Auf den letzten Filmaufnahmen kurz vor dem Absturz sieht man den Regisseur im Cockpit, im Gespräch mit dem Piloten.

Der Filmemacher hieß Martin Kirchberger und stammte aus dem hessischen Rüsselsheim, ebenso wie die anderen Mitglieder des Filmteams, die unter dem Namen "Cinema Concetta" zusammenarbeiteten. Der heutige Regisseur Thomas Frickel war damals Journalist bei einer Lokalzeitung und verfasste den Nachruf auf seinen Freund. Viele Jahre später zeigt er nun in seiner Doku "Wunder der Wirklichkeit" Ausschnitte aus Kirchbergers Filmen und holt Leute vor die Kamera, die ihm nahestanden - ein schönes Porträt.

Kirchberger begann in den Achtzigerjahren als dadaistischer Aktivist, der gegen Kohls "geistig-moralische Wende" Kalauer dichtete, Gurken in der Fußgängerzone verteilte und gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens protestierte. Er spielte in einer Band namens Captain Rüssel und malte. Dann begann er mit einfachsten Mitteln Werke zu drehen, die man heute als Mockumentaries bezeichnen würde: Filme, die aussehen wie Dokus, aber erfundene Geschichten erzählen.

Kirchbergers Pseudo-Dokus sind vollkommen durchgeknallt. Was allein dadurch deutlich wird, dass man ihre Handlung kaum recht zusammenfassen kann. Da ist etwa der Film über das "Gurkenstechen im Schnee" über einen Mann, der durch den Schnee fährt und Gurken in den Schnee steckt, um die Ernte zu beeinflussen. Eine komplexe Angelegenheit, die man, so der Mann, nicht jedem zutrauen könne. Ein anderer Film dreht sich um ein ähnlich geheimnisvolles Ritual. Eine Gruppe Männer schleppt einen massiven Stein durch den Wald und hängt ihn zwischen zwei Bäumen auf. Immerhin erklärt im Off eine Kinderstimme, dass es acht Männer brauche, um das Ungetüm zu bewegen, sowie jugoslawisches Langhanfseil. Danach zitiert das Kind die Kritiker des Unterfangens: Welcher Durchschnittsbürger versteht das überhaupt? Solche Fragen hat man auch Kirchberger oft gestellt. Als Wandmaler war er erfolgreich, als Filmemacher hatte er es schwerer. Die deutsche Filmförderung konnte mit seinen ausgefallenen Ideen wenig anfangen.

Was Frickels Porträt so berührend macht, ist die Spannung zwischen den spaßigen Filmen Kirchbergers und dessen tragischem Ende. Frickel erzählt, dass er über 25 Jahre hat warten müssen, um sich an einen Film über seinen Freund zu wagen. Davor hätte er es emotional nicht gepackt. Durch den zeitlichen Abstand entsteht aber viel mehr als nur ein Porträt, sondern auch ein Film über die alte Bundesrepublik und das Verstreichen der Zeit.

Wunder der Wirklichkeit , D 2017. - Regie und Buch: Thomas Frickel. Kamera: Frickel, Voxi Bärenklau, Vita Spieß. Real Fiction Filmverleih, 97 Min.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2018
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