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Film "Gabrielle":Überglücklich und zu Tode betrübt

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Was passiert, wenn jemand frei sein will, aber Fürsorge braucht, um das zu erreichen? "Gabrielle" ist behindert, singt in einem Chor mit anderen Behinderten und verliebt sich einen Jungen. Den Chor gibt es wirklich, die Hauptdarstellerin ist Mitglied. Dass die Rolle so nah an ihr dran ist, macht den Reiz des Films aus.

Von Susan Vahabzadeh

"Ordinaire" heißt das Lied, das der Chor Les Muses einstudiert zu Beginn von "Gabrielle", und es passt ganz wunderbar zu ihnen, weil nichts daran einfach ist oder gewöhnlich. Es ist ein Chor von geistig Behinderten, und sie singen das Chanson von Robert Charlebois, das davon handelt, wie einer singt, damit man ihn hört und versteht, nicht nur richtig mitreißend gut - sie machen es zu ihrer eigenen Hymne, sentimental und wunderschön, traurig und voller Lebenslust. "Vous voulez que je sois un dieu / Si vous saviez comme j'me sens vieux": Ein Gott soll ich sein für euch, wüsstet ihr nur, wie alt ich mich fühle.

Den Chor gibt es wirklich, die junge kanadische Filmemacherin Louise Archambault war auf das Kulturzentrum aufmerksam geworden, in dem er sich formierte, Les Muses, eine Einrichtung in Montréal, in der Behinderte singen und schauspielern. Archambault hat das Drehbuch dort erarbeitet, den Film dann überwiegend mit den jungen Leuten gedreht, die sie dort kennenlernte - auch Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard gehört dazu. Sie hat das Williams-Beuren-Syndrom, was oft mit besonderer Musikalität einhergeht. Und auch der Schauspielerei wohl nicht im Wege steht - die Rolle, die sie im Film spielt, ist nah dran an ihr selbst, und sie muss sie doch ausfüllen, spielen, vorspiegeln.

Das funktioniert ganz großartig, und allein das macht "Gabrielle" zu etwas Besonderem. Nur den Jungen, in den sich Gabrielle verliebt, mochte Louise Archambault nicht aus der Truppe von Les Muses rekrutieren. Es gibt eine Reihe von Liebesszenen im Film, ein schwieriges Terrain, und über die wollte sie die volle Kontrolle behalten, keine Improvisation zulassen. Es ist trotzdem ein erfrischend unbefangener Film, wahrhaftig, und - besonders der Musik wegen - einfach schön.

Zu viel Fürsorge

Die Nähe von Figur und Darstellerin macht den Reiz aus: Die Film-Gabrielle schafft es, dass man tatsächlich beginnt, die Welt mit ihren Augen zu sehen - wie sie sich ihr Recht auf Normalität erkämpfen will, einerseits, auf der anderen Seite sich an ihre Schwester Sophie (Mélissa Désormaux-Poulain) klammert, die gerne zu ihrem Freund fahren würde, der in Indien arbeitet, stattdessen aber sich fast täglich um Gabrielle kümmert, die in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt. Gabrielle verliebt sich in einen Jungen aus dem Chor, und dann ist sie überglücklich und zu Tode betrübt.

Gesang ist, wenn er schön ist, zutiefst emotional - und man kann eigentlich nicht erwarten, dass einer ein Gefühl singt, das er gar nicht hat. Martin ist, sagt seine Mutter beim Krisengipfel über die sich anbahnende Beziehung zwischen dem Sohn und Gabrielle, sonst so brav. Dass er nun etwas empfindet und sich ihrer Kontrolle entzieht, macht ihr Angst. So kommt es also, dass er nun eine Weile nicht einmal mehr zu den Chorproben darf, damit er Gabrielle nicht mehr sieht.

Wie das ist, wenn einer frei sein will, aber zu viel Fürsorge braucht, um es zu sein, das zeigt Louise Archambault wirklich nachvollziehbar- auch Gabrielle fängt an, sich gegen die permanente Beaufsichtigung zu wehren, obwohl ihr Betreuer und Sophie ihr soviel Freiraum wie nur irgendwie möglich lassen. Ein Tag allein in Sophies Wohnung ist dann zu viel. Gabrielles Ausbrüche scheitern, aber sie versucht es immer wieder. Sie sind Teil ihres Lebens, gefährlich, frustrierend, aber sie braucht sie zum Glücklichsein - um das bisschen Freiheit auszukosten, das sie hat.

Gabrielle, Kanada 2013 - Regie und Buch: Louise Archambault. Kamera: Mathieu Lavierdère. Mit: Gabrielle Marion-Rivard, Mélissa Désormaux-Poulain, Alexandre Landry . Alamode, 104 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 26.04.2014
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