Das Leben in Osteuropa ist schwieriger aber auch spannender als im Westen - was gleich zwei gute Voraussetzungen für interessantes Kino schafft. Eine Gelegenheit, dies zu erleben, besteht nun schon seit acht Jahren in Wiesbaden, wo seit 2001 das goEast-Festival für den ost- und mitteleuropäischen Film im April seine Pforten öffnet.
Es dürfte in Deutschland zwar Orte geben, die leichter einen geistigen Bezug zu den östlichen Nachbarländern herstellen als diese behagliche westdeutsche Landeshautpstadt, doch vielleicht liegt gerade in diesem Kontrast der Reiz des Festivals: Es präsentiert das Filmschaffen dieser Weltregion einem staunenden Publikum, das die spannenden Filme sonst kaum zu Gesicht bekäme. Denn obwohl das osteuropäische Kino vor Kreativität strotzt und sich beim eigenen Publikum teilweise besser gegen Hollywood behauptet als etwa der deutsche Film hierzulande, kommt kaum ein Film aus Georgien, Tschechien oder Russland in den deutschen Verleih.
Verschmitzte Komik
Zu den wenigen, die es regelmäßig in deutsche Kinosääle schaffen, zählt das tschechische Vater-Sohn-Gespann Zdenek und Jan Sverák, die hier zuletzt im vergangenen Jahr mit "Vratné Lahve" (Leergut) zu sehen waren. Dennoch ist das Oscar-gekrönte Erfolgsduo ( 1996 für "Kolja") in Deutschland praktisch unbekannt, während es nur wenige Kilometer weiter östlich zu den absoluten Superstars des Filmgeschäfts zählt.
Inkognito durch die Wiesbadener Innenstadt zu wandeln, war für Schauspieler und Drehbuchautor Zdenek und den Regisseur Jan Sverák daher sicher einmal ganz angenehm, und auch das deutsche Publikum kam auf seine Kosten. Denn bei einem gewitzten Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn war die verschmitzte Komik ihrer Filme live erlebbar.
Doch das war nur einer der wenigen leichtfüßigen Momente des diesjährigen goEast-Festivals, dem es darum wohl nicht gelungen sein dürfte, Osteuropas Filmkultur in Deutschland zu popularisieren.
Demokratischer Fortschritt
Zwar stellte die künstlerische Leiterin Swetlana Sikora erneut einen anspruchsvollen Wettbewerb zusammen, und auch die Nebenreihen des Festivals boten ein reiches Konzentrat der jüngsten Highlights des osteuropäischen Kinos. Doch die Filmemacher der Region stecken inzwischen voll in der Aufarbeitung ihrer schwierigen Vergangenheit: "Hauptthema in diesem Jahr ist die filmische Auseinandersetzung mit Krieg und Totalitarismus", hatte Festivalleiterin Nadja Rademacher gleich beim Auftakt angekündigt.
In dem kasachischen Wettbewerbsbeitrag "Podaruk Stalinu" (Ein Geschenk für Stalin) behandelte Regisseur Rustem Abdrashov beispielsweise erstmals die sowjetischen Massendeportationen in sein Land. So sehr der gut gemachte Film als demokratischer Fortschritt für das immer noch totalitär regierte Kasachstan gelten muss, so schwer tut er sich allerdings mit dem seichten Massengeschmack der deutschen Spaßgesellschaft.
Doch schwere Stoffe fördern die künstlerische Ambition: Mit seinem Wettbewerbsbeitrag "Tablo" (Tableau) erinnerte der ungarische Regisseur Gábor Dettre in Wiesbaden beispielsweise an Sidney Lumet. Wie der amerikanische Altmeister hat auch der Budapester den Glauben an die Gerechtigkeit verloren: "Tablo" ist nicht nur ein düsterer Thriller, sondern auch ein komplexer Krimi mit Fingerzeigen auf den aktuell bestehenden Nationalismus und Rassismus in Ungarn.
Verstörende Gefühlskälte
Dettres Hauptakteur, der Roma und Polizist György Karcsi, grandios gespielt von dem Charakterdarsteller Zoltán Musci, ist dabei so widersprüchlich wie die ihn umgebende Gesellschaft. Einerseits sucht er zwar unerbittlich nach der Wahrheit, andererseits ist aber auch er der Lüge verfallen.
Auf den Spuren des Dogma-Stils präsentierte sich in Wiesbaden der russische Beitrag "Schultes". Regisseur Bakur Bakuradze gelingt es darin, den Zuschauer durch seinen reduzierten Stil in eine eigenartige Spannung zu versetzen - dabei geht es eigentlich nur um den kleinen Taschendieb Lescha.
Das Bild, das Bakuradze dabei von der modernen russischen Gesellschaft zeichnet, ist beunruhigend. Nur so lange Lescha seine verstörende Gefühlskälte aufrechterhalten kann, funktioniert sein armseliges Leben im trostlosen herbstlichen Moskau. Doch kaum findet er am Schluss des Filmes erstmals Zugang zu seinen Emotionen und handelt menschlich, ist seine Existenzberechtigung schon erloschen.
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Ähnlich gnadenlos rechnet Boris Chlebnikov in seinem Wettbewerbsbeitrag "Sumassedsaja Pomosc" (Verrückte Rettung) mit Russlands Hauptstadt ab. Der naive und begriffsstutzige Schenja aus Weißrussland versucht sein Glück in der Mega-Metropole, doch das System Moskau spuckt ihn nach nur einem Tag schon wieder aus - nicht einmal die Schuhe lassen ihm die Straßenräuber. Nur die unverhoffte Bekanntschaft mit einem wunderlichen Rentner bewahrt ihn vor der Obdachlosigkeit.
Wie Don Quichotte und Sancho Panza verstricken sich die beiden fortan in absurde Abenteuer, wobei im postsozialistischen Russland für Spinner kein Platz ist: Wie auch Lescha landet der alte Mann im Staub eines Moskauer Hinterhofes, wo er einen dreckigen gewaltsamen Tod findet.
Neugierde auf das Enfant terrible
Für seinen Film bekam Chlebnikov den Regiepreis der Landeshauptstadt Wiesbaden verliehen, während der zweite russische Wettbewerbsbeitrag "Morfij" (Morphin) von Alexej Balabanov den Preis des Auswärtigen Amtes für besondere künstlerische Qualität ergatterte. Im Gegensatz zu Chlebnikov ist Balabanov in Russland aber längst Kult: Sein verstörender und grandioser Orwell-Verschnitt "Grus 200" (Fracht 200) über die späte Sowjetunion als einzige Kloake spaltete 2007 eine ganze Nation.
Auch zwei Jahre später hallte diese Diskussion in den Wiesbadener Publikumsgesprächen zu Filmen aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion noch nach - nur allzu oft mussten sich nämlich die russischen und kasachischen Filmschaffenden Fragen zu "Grus 200" stellen.
Die Neugierde auf Balabanovs neuen Film war groß - und Russlands Enfant terrible enttäuschte seine Fans nicht: Obwohl sich "Morfij" als Verfilmung der autobiographischen Kurzgeschichten des russischen Weltliteraten Michail Bulgakow (1891 - 1940) deutlich vom surrealistischen Vorgängerfilm unterschied, war die Handschrift des "russischen Quentin Tarantino" deutlich erkennbar.
Gnadenlose Kamera
Balabanov will die Welt zeigen, wie sie ist, und so wird dem Publikum keine der Härten im Leben eines russischen Landarztes des Jahres 1917 erspart. Bei einer Beinamputation hält die Kamera derartig gnadenlos auf die Prozedur, dass ein Zuschauer bei der Premiere des Films in Moskau in Ohnmacht fiel. Darauf hätten die russischen Medien nach dem "Grus 200"-Eklat nur gewartet, erzählte Hauptdarsteller Leonid Bichevin - bei Balabanov schieden sich eben grundsätzlich die Geister.
Das Zeug zum Kult demonstrierte in Wiesbaden auch der Bulgare Javor Gardev mit seinem Wettbewerbsbeitrag "Zift". Als "stilistisch wilde Mischung aus Film noir, Pulp Fiction und ein wenig Jean Cocteau" angekündigt, versprach der Film viel und löste schließlich sogar noch eine Brise Aki Kaurismäki ein: Gardev lässt den Kommunismus, wie er sein wollte und wie er tatsächlich war, in seinen Widersprüchen unbarmherzig aufeinanderprallen und zeichnet so ein groteskes Bild der Zustände in seiner Heimat Bulgarien.
Der in Schwarzweiß gedrehte Independentfilm zog im Schwarzmeerland bereits mehr Menschen in die Kinos als so mancher Hollywoodfilm und ist inzwischen die erfolgreichste bulgarische Produktion der vergangenen zwanzig Jahre. Die Wiesbadener Wettbewerbsjury unter dem polnischen Regisseur Jerzy Stuhr erwähnte "Zift" lobend als besonders couragiertes und originelles Regiedebut. Nach den großen Erfolgen des jungen rumänischen Kinos in den vergangenen Jahren ( Goldene Palme in Cannes, 2007) trat in Wiesbaden nun also auch das Kino des Nachbarlandes in Erscheinung.
Schreckliches und Versöhnliches aus Georgien
Der Hauptpreis des Festivals, die mit 10.000 Euro dotierte "Goldene Lilie", sowie auch der Fipresci-Preis der internationalen Filmkritiker ging schließlich aber noch ein Stück weiter in den Osten: Im georgischen Roadmovie "Gagma Napiri" (Das andere Ufer) macht sich der zwölfjährige Tedo von Tiflis aus auf die gefährliche Suche nach seinem Vater im verfeindeten Abchasien.
Tedo erlebt dabei Schreckliches und die Mission der Reise - die Rückkehr zum Vater - misslingt. Dennoch setzt Regisseur George Ovashvili am Ende ein versöhnliches Zeichen: Tedo tanzt mit seinen Feinden - denn Georgier und Abchasier seien im Grunde gleich, wie Ovashvili erzählte.
"Ende gut, alles gut" - dieses Fazit war in den Wiesbadener Filmen in diesem Jahr aber eher die Ausnahme. Selbst wenn die Hoffnung schon gestorben ist, hilft immer noch Galgenhumor und Spott. Davon ist zumindest der Serbe Boris Mitic überzeugt, der eine sarkastische Collage aus Archivmaterial und Videobildern "Do Vidjenja, kako ste?" (Auf Wiedersehen, wie geht es euch?, zum Trailer hier) montierte. Die Conclusio über sein Land: "Wir sind so witzig, weil wir noch nie so deprimiert waren."