Süddeutsche Zeitung

Film:Der menschliche Faktor

Wie ergeht es einem Flugkapitän, der 155 Menschenleben mit einer Notlandung rettet? Clint Eastwoods Film "Sully" handelt vom Verblassen eines bestimmten Heldentypus aus der weißen Mittelschicht.

Von Philipp Stadelmaier

Von Anfang an ist alles zu Ende. Die Linienmaschine der US Airways rast quer durch die Häuserschluchten von Manhattan und verliert immer mehr an Höhe. In der Kabine schreien die Passagiere, sie wissen, was kommt. Die beiden Männer im Cockpit wissen es auch. "Ich liebe dich, Lorraine", sagt der Pilot, ein letzter testamentarischer Satz inmitten der automatischen Warntöne und Alarmsignale für den Flugschreiber, der die Cockpitgespräche aufzeichnet. Schon rammt sich die Maschine in ein Gebäude, geht in einem gigantischen Feuerball auf. Die Katastrophe. Dann wacht Sully auf. Was er geträumt hat, hat er kurz zuvor gerade noch einmal verhindert.

Der Träumer ist ein Pilot, Chesley B. Sullenberger, Spitzname Sully. Am 15. Januar 2009 wurde er weltbekannt, als ihm mit einem voll besetzten Airbus A 320 der US Airways auf dem Hudson River in New York eine Notwasserung gelang. Kurz nach dem Start vom Flughafen LaGuardia auf dem Weg nach North Carolina flog ein Vogelschwarm in beide Triebwerke, die sofort ausfielen. Der Tower riet zur Rückkehr nach LaGuardia. Sully spürte, dass er es nicht schaffen würde, und entschied sich für die Wasserlandung. Alle 155 Insassen überlebten unversehrt und konnten von herbeieilenden Fähren und Booten der Küstenwache an Land gebracht werden. Durch den Vorfall wurde Sully zum Helden. Und über Helden dreht man Filme. So wie jetzt Clint Eastwood, mit Tom Hanks in der Hauptrolle.

Müsste nach so einer großen Heldentat nicht schiere Partylaune herrschen?

Eastwood beginnt seinen Film nach dieser Rettung, die man später in atemberaubend inszenierten Rückblenden sieht. Vor allem geht es ihm um die Zeit nach dem Vorfall. Der stille, bescheidene Pilot ist da plötzlich "all over the news". Er tritt in der Late-Night-Show bei David Letterman auf, die junge Hotelchefin fällt ihm um den Hals, und die Maskenbildnerin beim Fernsehinterview drückt dem "Helden vom Hudson" einen Kuss von ihrer Mutter auf die Backe. Sully ist plötzlich ein Superstar. In einer Bar in New York, in die er sich abends einmal verirrt, hat man sogar einen Drink nach ihm benannt, den "Sully": Grey Goose Wodka mit einem Spritzer Wasser.

Der Drink passt gut zum Film. Denn bald bekommt man den seltsamen Eindruck, dass hier allzu wenig gefeiert wird. Dass immer ein Spritzer Wasser den Wodka trübt. Müsste nach so einer Heldentat nicht die schiere Partylaune herrschen? Da ist gerade etwas Wunderbares geschehen - warum so zaghaft?

Weil es genauso gut hätte schiefgehen können. Immer wieder ziehen vor Sullys Augen die Bilder seines Albtraums vorbei, der fast Wirklichkeit geworden wäre, während ihn die Frage quält, ob er auch alles richtig gemacht hat. Die stellt ihm auch die Flugaufsichtsbehörde: Hat er doch leichtsinnig gehandelt? Hätte er nicht versuchen sollen, zum Flughafen zurückzukehren? So hält sich die Freude über das Wunder stets die Waage mit der Traurigkeit über einen ebenso gut möglichen Tod, dem man gerade noch von der Schippe gesprungen ist. "Du denkst, du stirbst, und dann tust du es wunderbarerweise nicht", stammelt eine Überlebende. Um Haaresbreite hätte es also keinen Helden gegeben, und Sullys Name wäre für immer mit einem schrecklichen Desaster verbunden gewesen.

Eastwood macht also, das ist das Großartige an seinem Film, aus einem eindeutigen Helden einen Helden, der fast keiner geworden wäre, der sich auch selbst nicht so sieht. Der Regisseur nimmt eine Figur, die im grellsten Scheinwerferlicht steht, und dreht langsam das Licht über ihr aus. Wenn sich zu Anfang Sully in seinem Hotelzimmerbett erhebt, in das man ihn nach dem Unfall einquartiert hat, umgibt ihn tiefste Dunkelheit. Diese Verdunkelung der Silhouette lässt nun gerade das Allgemeine an ihr hervortreten. Denn wir sehen nicht nur Sully oder Tom Hanks. Sondern in erster Linie einen Mann, der seinen Job macht, mit einer Erfahrung von 20 000 Flugstunden auf dem Buckel. Ansonsten hat er eine Frau und zwei Kinder. Sully ist, wie es einmal gesagt wird, der "menschliche Faktor", die Variable, die Unbekannte, in einer sehr unwahrscheinlichen Rettungsaktion, ohne den "die Gleichung nicht aufgeht". Aber an diese Stelle können auch andere treten. Worum es Clint Eastwood geht, ist nicht unbedingt Sully. Es geht ihm um jemanden wie Sully. Und von solchen wie Sully gibt es viele.

Flugaufsicht und Versicherung sind daran interessiert, Sully als unverantwortlich hinzustellen

Nach dem 11. September geriet der echte Sully in finanzielle Schwierigkeiten, als man aufgrund der kritischen Situation der Fluggesellschaften sein Gehalt kürzte und seine Pensionsansprüche aussetzte. Im Film wird in einem Telefonat mit seiner Frau außerdem deutlich, wie sehr ihnen auch die spätere Wirtschaftskrise zugesetzt hat, haben sie doch Schwierigkeiten, für eine Wohnung neue Mieter zu finden, und viele offene Rechnungen. Und dann sind da noch die Schergen von der Flugaufsicht und der Versicherung, die daran interessiert sind, Sully als unverantwortlich darzustellen, wegen der Versicherungssumme. Im Falle einer Verurteilung droht die sofortige Suspendierung ohne Pension.

Sully, das ist bei Eastwood zuvorderst ein hart arbeitender weißer Mittelschichtsmann inmitten eines wirtschaftlichen Niedergangs und im Kampf gegen ein profitgieriges Establishment. Was auch an den kürzlich gestarteten Film "Deepwater Horizon" erinnert, in dem Mark Wahlberg als Held der weißen Arbeiterklasse auf einer brennenden Ölplattform etlichen Kollegen das Leben rettet, während die ruchlose Betreiberfirma es nur auf Profite abgesehen hat. Sieht man diese Filme nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: Auch solche Leute könnten Trump gewählt haben, um ein Zeichen zu setzen.

Clint Eastwood jedenfalls hat vermutlich Trump gewählt: Der überzeugte Republikaner ist einer der wenigen Hollywood-Prominenten, die im Wahlkampf klar gesagt haben, Trump wäre Hillary Clinton vorzuziehen - weil die Menschen von "Political Correctness" schon lange die Nase voll hätten, und weil eine "Generation der Weicheier" inzwischen den Ton angebe, "in der alle wie auf Eierschalen laufen".

Dazu passt Eastwoods letzter Film "American Sniper", der in den USA einen enormen Erfolg hatte. Er handelte von Chris Kyle, dem erfolgreichsten Scharfschützen des US-Militärs. Ein besonders harter "white guy", der seinen Job sehr gut macht und wie Sully aus Texas stammt. Nun ist das Hollywoodkino heute natürlich allgemein eher linksliberal. Das Heldenpersonal wird weiblicher und bunter, etwa in "Star Trek", "Star Wars", "Ghostbusters", den "Magnificent Seven". Aber der alte Reaktionär Eastwood ist trotzdem ein sehr großer Filmemacher. Denn seine Filme zeichnen keine naiven Heldenbilder. Er zeigt im Gegenteil besser als irgendwer sonst, wie diese Heldenbilder des "einfachen weißen Mannes" heute immer mehr verblassen.

Wenn die Frau des Scharfschützen in "American Sniper" etwa langsam die Tür hinter ihrem Mann schließt, kurz bevor dieser ums Leben kommt, dann erinnert das an ein Auge, das sich über dem Bild der Legende langsam zu schließen beginnt. Und auch in "Sully" erinnert man sich am Ende weniger an Tom Hanks als an seine gespensterhaft kreideweißen Haare und an das Pechschwarz eines Fernsehbildschirms, der auf einmal leer bleibt, nachdem die TV-Apparate sonst nonstop vom Mythos Sully berichten.

Der Film erzählt von einem Gespenst, das umgeht in Amerika, dem Gespenst des weißen Mannes

"Sully" erzählt also von einem Gespenst. Das zeigen auch die wunderbaren Telefongespräche zwischen Sully in New York und seiner Frau in Texas. Nie sind beide gemeinsam an einem Ort. So wirkt es, als würde sie mit einem Geist telefonieren. Lass uns später telefonieren, sagt er ihr immer. Es ist jetzt später, sagt sie ihm irgendwann. Die Zeit in "Sully" ist die Zeit dieses "Später", die Zeit nach den Ereignissen, die Zeit der Legende. Aber in diesem "Später" ist es beinah egal, ob Sully zu einem Helden wurde oder versagt hat: Er gehört einer Vergangenheit an, die ihm immer mehr entgleitet.

"Sully" erzählt also von einem Gespenst, das umgeht in Amerika: vom Gespenst des weißen Mannes, des Angehörigen einer gewissen weißen Mittelklasse. Hart arbeitend, größtenteils ignoriert. Seine Zeit ist vorbei, denn die mit seinem Geschlecht und seiner Hautfarbe verbundenen Privilegien schwinden dahin. Aber wie das so ist mit Gespenstern, sie sind nach wie vor da. Um etwas von ihnen zu verstehen, braucht man das Kino, diese große Gespenstermaschine, die zeigt, was schon nicht mehr ist, und dennoch hartnäckig auf der Präsenz des Vergangenen beharrt.

Und man braucht einen Geisterbeschwörer wie Clint Eastwood, der nüchtern konstatiert, dass seine Zeit vorbei ist, ohne in Nostalgie zu verfallen. Aber der auch deutlich macht, dass man mit dem bleichen Gespenst, das der weiße Mann geworden ist, an kein Ende kommt. Viele würden ihn gerne ein für alle Mal vergessen. Aber gerade erst hat er eine Wahl entschieden. Manchmal wird er auch zum Helden. Denn mit Gespenstern muss immer gerechnet werden. Sie können unvorhergesehene Ausgänge bescheren, für eine Wahl etwa oder einen Flugzeugabsturz.

Sully, USA 2016 - Regie: Clint Eastwood. Buch: Todd Kormanicki, Chesley Sullenberger, Jeffrey Zaslow. Kamera: Tom Stern. Schnitt: Blu Murray. Produktionsdesign: James J. Murakami. Mit Tom Hanks, Aaron Eckhart, Anna Gunn. Verleih: Warner Brothers, 96 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2016
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