Film:Das Messer geht rein, das Messer geht raus

Nicolas Pesce hat mit "Eyes of My Mother" einen todtraurigen Anti-Horrorfilm mit wunderbaren Bildern gedreht.

Von Philipp Bovermann

"Die Angst vor dem Toten", schreibt Sigmund Freud in seinem Aufsatz über das Unheimliche, habe den "alten Sinn, der Tote sei zum Feind des Überlebenden geworden und beabsichtige, ihn mit sich zu nehmen, als Genossen seiner neuen Existenz". So funktionieren die meisten Horrorfilme: Die Geister kehren wieder, um den Lebenden das Leben auszutreiben. Das Verdrängte bricht auf und überströmt den sorgsam gehegten Garten mit Blut.

Aus dieser Perspektive ist "The Eyes of My Mother" eigentlich ein Anti-Horrorfilm. Anderswo sind die Toten zu wenig tot, für die kleine Francesca sind sie es viel zu sehr. Außer ihren Eltern hat sie ja auch nichts und niemanden. Mit ihnen lebt sie anfangs zurückgezogen auf einem Bauernhof, in einer diffusen Retro-Vergangenheit, in der die Telefone noch Kabel haben und die Filme keine Farben, auch dieser nicht. Wir befinden uns irgendwo an einer der endlosen amerikanischen Landstraßen, die nur alle paar Wochen von einem Truck durchpflügt werden.

Als dann doch einmal Besuch kommt, ist es gleich der falsche. Francesca sitzt im Wohnzimmer, während der Gast, ohne besonderen Grund, ihre Mutter ermordet, eine Augenärztin aus Portugal. Von ihr hat Francesca gelernt, wie man die Augen vor dem Unausweichlichen verschließt. Es müssen ja nicht unbedingt die eigenen Augen sein. Man zuckt zusammen, als die Mutter eingangs das Messer über einem Kuhauge ansetzt. Aber wo Buñuel in der berühmtem Szene im "Andalusischen Hund" eine dunkle Wolke durch den Mond gleiten ließ, folgt hier kurz darauf eine Leerstelle, eine Ellipse.

Film

Kika Magalhães muss als Francisca nicht nur roboterhaft zusammengefroren schauen, sondern zugleich wie ein Mädchen, das mit Puppen grausig Familie spielt.

(Foto: Verleih)

Ihr ihr geschieht der Mord an der Mutter.

Der New Yorker Regisseur Nicolas Pesce, Jahrgang 1990, der mit diesem Arthouse-Horrorfilm sein Debüt gedreht hat, zeigt uns überhaupt recht wenig von der Gewalt, die in diesem Haus noch geschehen wird, dafür viel von dem Haus selbst. Auch in dieser Hinsicht kehrt "The Eyes of My Mother" Genrekonventionen um.

Klassischerweise scheinen sich die verspukten Wände klaustrophobisch um die Protagonisten zusammenzuziehen, während das Gebäude sie zu verdauen beginnt. Hier hingegen hat man den Eindruck, der Hof erstickt in der beklemmenden Weite der Landschaft. Die wenigen, in die Stube geflüsterten Gespräche führt die Familie teils auf Englisch, teils auf Portugiesisch. Die Konquistadorensprache klingt wie ein europäischer Märchenzirkel gegen das amerikanische Setting, als würde sie ein Geheimnis verbergen, dem der Zuschauer nicht auf die Schliche kommt. Wie das Wimmern eines traurigen Nachtmahrs, der sich in den Hirnen greiser Bauern einnistet, um nicht so einsam zu sein. Francesca ist dieser Geist. Denn als auch ihr Vater stirbt, lebt sie, inzwischen eine junge Frau, ganz allein auf dem Hof.

Die wunderbaren Bilder scheinen in Formaldehyd eingelegt

Die bislang unbekannte Kika Magalhães spielt sie, und wenn sie mit blutigem Gepäck in den Wald geht, sieht sie aus wie Scarlett Johansson in "Under the Skin". Sie ist genauso überirdisch schön, muss aber, anders als Johansson, nicht nur roboterhaft zusammengefroren schauen, sondern zugleich wie ein Mädchen, das mit Puppen grausig Familie spielt. Francesca ist beides: Frau und Kind, Mutter und Tochter, ein Monster und zugleich ein Engel in ihrem weißen Kleid, in dem sie, mit geschlossenen Augen, zu den alten Schallplatten ihrer Eltern tanzt. "The Eyes of My Mother" ist daher kein furchterregender Film, sondern in erster Linie todtraurig. Alles ist bekannt, nichts überfällt den Zuschauer, im Gegenteil, diese wunderbaren Bilder scheinen vielmehr in Formaldehyd eingelegt und in einem Keller vergessen. Auch der Tod findet einfach nur statt, das Messer geht rein, das Messer geht raus. Das einzige Ereignis, wenn man so will, ist Francescas monströse Liebe.

Der Verlust des Augenlichts, von Freud als Kastrationsangst erklärt und so in die Terminologie der Moderne gerettet, ist ein zutiefst archaischer Topos. Nicht zu sehen ist tragisch. Nicht gesehen zu werden, weil die anderen keine Augen mehr haben, ist schrecklich.

The Eyes of My Mother, USA 2016 - Regie, Buch: Nicolas Pesce. Kamera: Zach Kuperstein. Mit: Kika Magalhães, Clara Wong, Flora Diaz. Drop-Out Cinema, 76 Minuten.

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