Im Kino: "Chaos Walking":Männer ohne Filter

Kinostart - Jugendbuch-Verfilmung ´Chaos Walking"

Viola Eade (Daisy Ridley) und Todd Hewitt (Tom Holland) auf der Flucht in einer Szene des Films "Chaos Walking".

(Foto: Murray Close/dpa)

Eine neue Welt, ohne Frauen: In "Chaos Walking" müssen die Männer allein klarkommen. Besonders gut klappt das nicht.

Von Fritz Göttler

Der Noise ist eine Männersache, offensichtlich, auf dem fernen Planeten New World, den eine Gruppe Menschen besiedelt im Jahr 2257. Eine Geschwätzigkeit, eine Inkontinenz, die lästig und peinlich ist und manchmal tödlich sein kann. Die Männer können ihr Innenleben nicht für sich behalten, ihre Gedanken und Gefühle, sie dünsten sie aus, ungewollt und ungefiltert, sodass alle anderen sie mitkriegen. Without a filter, heißt es zu Beginn des Films, a man is just chaos walking ... Die Vorlage für den Film ist ein Roman von Patrick Ness, "The Knife of Never Letting Go", der erste Teil der New-World-Trilogie.

Der Noise, das sind Schlieren, die um die Männer wabern und sich zu verwaschenen, zappeligen, manchmal auch hologrammscharfen Bildern formen. Ein Chaos, das zerstörerisch, manchmal aber kreativ und produktiv sein mag. Die Männer kämpfen dagegen an, indem sie mit mantrahaften Sprüchen ihr Denken blockieren. Seinen Noise unter Kontrolle bringen, das bedeutet in dieser Gesellschaft, ein Mann zu werden. Was hat der Noise mit der Seele zu tun, mit Potenz?

Tom Holland ist der Teenager Todd Hewitt, er steht unmittelbar vor dem Mannwerden. Er lebt in dem Ort Prentisstown, den der Bürgermeister Prentiss beherrscht, gespielt von Mads Mikkelsen. Ich bin der Kreis, brabbelt der immer wieder, sein Mantra zur Kontrolle seines Noise. Es gibt keine Frauen im Ort, und es ist unklar, ob sie Opfer der Männer und ihrer Misogynie wurden oder der Ureinwohner des Planeten, der Spackles.

Das Fehlen der Frauen verformt die gesellschaftlichen Rollen der Männer

Eine klassische Pioniergeschichte, wie wir sie kennen aus den Lederstrumpf-Romanen von James Fenimore Cooper, über die Besiedlung Amerikas. Dichte Wälder, kleine Ortschaften und Farmen, autokratische Gruppenführer, die Bedrohung durch die Ureinwohner, die Natives. Das Fehlen der Frauen verformt die gesellschaftlichen Rollen der Männer, die Beziehung der Väter und Söhne. Auch ein Prediger treibt sich herum, fanatisch, nicht ganz bei Sinnen. Irgendwo in den Wäldern liegt das Wrack des Raumschiffs, mit dem die Siedler einst auf den Planeten kamen.

Kinostart - Jugendbuch-Verfilmung ´Chaos Walking"

Bürgermeister Prentiss (Mads Mikkelsen, vorn) und sein Sohn Davy Prentiss jr. (Nick Jonas, l.) herrschen über die Kleinstadt Prentisstown.

(Foto: Murray Close/dpa)

Ein zweites Schiff ist inzwischen auf dem Weg, mit neuen Siedlern, die Erkundungskapsel, die es losschickt, macht eine Bruchlandung. Todd findet ein überlebendes Mädchen im Wald, Viola, gespielt von Daisy Ridley, die in den letzten Star-Wars-Filmen Rey verkörpert, die jüngste Skywalker-Generation. Die Zuwanderung Tausender neuer Siedler: Die alte Welt liefert damit ein Problem für die neue.

Der Plan der Verfilmung entstand vor zehn Jahren, als Fantasy mit jugendlichen Helden im Kino höchst erfolgreich war, die "Tribute von Panem", der "Maze Runner", die "Divergent"-Serie. Der Begriff der Dystopie - heute ein fast beliebiger Allerweltsbegriff - ist mit diesem Genre entstanden. Als Dystopie kam den Jugendlichen die Welt der Erwachsenen vor, düster und fremd, all die Zwänge, die Moral und Verlogenheit der patriarchalischen autoritären Gesellschaft, in der sie Außenseiter waren, rebels without a cause.

Der Noise bedeutet permanenten Stress. Regisseur Liman geht spielerisch damit um

Charlie Kaufman hat damals die allererste Fassung des Drehbuchs geschrieben, der Autor von "Being John Malkovich" und "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" - und der Noise schien genau sein Thema, die Topografie des Gedächtnisses, des Un-und Vorbewussten. Kino als Psychoanalyse, das Unsichtbare sichtbar werden lassen. Wie sich Gedachtes und Erinnertes, Imaginäres und Begehrtes materialisiert. Die Produktionsgeschichte war chaotisch, das produzierende Studio vermisste das Blockbuster-Potenzial.

Der Noise bedeutet, weil er sich nie in feste Formen stecken lässt, permanenten Stress. Der Regisseur Doug Liman geht eher spielerisch damit um. Wenn man den Noise wirklich ernst nähme, dann käme, Charlie Kaufman hat das wohl gespürt, etwas heraus wie die letzten Filme von Godard. Dass man mehr zu sagen hat als einem bewusst ist, das ist der Stoff, aus dem politische Intrigen entstehen oder verfeinerte Comedy. Einmal hocken Todd und Viola auf einem riesigen Pfeiler, weit über den Wäldern und der Welt - der Platz für einen Moment absoluter Liebe.

Chaos Walking, 2021 - Regie: Doug Liman. Buch: Christopher Ford, Patrick Ness. Kamera: Ben Seresin. Schnitt: Doc Crotzer. Musik: Marco Beltrani, Brandon Roberts. Mit: Tom Holland, Daisy Ridley, Mads Mikkelsen, Nick Jonas, Kurt Sutter, Demián Bichir, David Oyelowo, Cynthia Erivo. Studiocanal, 109 Minuten.

Zur SZ-Startseite
A Quiet Place 2

Im Kino: "A Quiet Place Part II"
:Jenseits der Stille

"A Quiet Place 2": Die Fortsetzung des Horrorhits ist eine bitterböse Parabel auf die Gegenwart.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: