Film "Après Mai" von Olivier Assayas:Autismus nach der Revolution

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Hilfe in einer bleiernen Zeit: Olivier Assayas schildert in "Après Mai" seine Jugend in Paris nach 1968 und erzählt, wie er von Filmemacher Guy Debord errettet wurde. Es ist ein Film über die Bitterkeit des Lebens nach der Revolution und die Bedeutung abgesägter Baumstümpfe.

Fritz Göttler

Teenager Trouble, die Verwirrungen und Tribulationen eines jungen Parisers im Paris der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der Filmemacher Olivier Assayas war dreizehn, als der Mai '68 die Stadt erschütterte, und in den Jahren danach hat er sich zum Schreiber, zum Filmemacher, zum Poeten entwickelt. Wer nicht nach einer - verpatzten - Revolution gelebt hat, kennt nicht die Bitterkeit des Lebens . . . Von den Achtzigern an hat er sich in zahlreichen Kinogenres rumgetrieben, Jugend-Filme, bürgerliches Melodram, Action und Fantasy im Transitraum zwischen Europa und Fernost, schließlich "Carlos", die halluzinatorische Studie des internationalen Terrorismus in einer seiner großen Figuren. Zuletzt, eben auf dem Filmfestival in Venedig vorgestellt, eine Geschichte aus den Sechzigern, "Après Mai".

Regisseur Olivier Assayas spielt mit seinem Preis für das beste Drehbuch zu "Aprês Mai" auf dem Filmfest in Venedig. (Foto: Reuters)

Assayas hat seine "Nach-Mai-Jugend" selbst geschildert, und wie er errettet wurde in dieser bleiernen Zeit durch den Poeten und Filmemacher Guy Debord, seine Vorstellung von einer lebendigen Revolution - der "Situationistischen Internationale". Ein definitives Outing als Debordianer, konzipiert als Brief an die Witwe Alice Debord - 2006 hat sie Assayas beauftragt, die DVD-Edition der Filmwerke Debords zu beaufsichtigen. Das Filmmuseum Wien hat den Text von Assayas, ins Englische übertragen, herausgebracht, zusammen mit einem Sammelband über die Filme von Assayas ("A Post-May Adolescence. Letter to Alice Debord", plus zwei Essays über Guy Debord. Aus dem Französischen von Adrian Martin und Rachel Zerner. Der Assayas-Band ist herausgegeben von Kent Jones. FilmmuseumSynemaPublikationen Band 16 nd 17, Wien 2012. Zusammen 26 Euro).

Eine recht normale - französische? europäische? - Jugend, der dreizehnjährige Assayas erlebte den Mai '68 aus dem linken Elternhaus heraus. Die Streiks an der Sorbonne und bei Renault, die abgesägten Baumstümpfe auf dem Boulevard Saint-Michel, die Komitees und Diskussionen, Manifeste und Zeitschriften. Die Dialektik von Freiheit und Kontrolle, die der Sozialismus nicht in den Griff kriegt. Die Sturheit der Stalinisten und die Dissidenz der Maoisten, Sartre, "der um nichts in der Welt eine Gelegenheit auslassen würde, mit einer totalitären Ideologie ins Bett zu springen". Eine Atmosphäre von Anarchie, Radikalität, Erneuerung. "Alles passierte schnell, zu schnell, und bald waren die Zeichen des Endes da." Desillusionierung, Versteinerung, der "Autismus" der Siebziger.

Da begegnete Assayas dem Werk von Guy Debord, in dem Destruktion und Konstruktion kreativ zusammenfanden. "Hurlements en faveur de Sade", 1952, war für den Film, was Malewitschs "Weißes Quadrat auf weißem Grund" für die Kunst gewesen war. "La Societé du spectacle", 1973, war für Assayas "mein Aufbruchspunkt, ein ground zero für mein Begreifen der Welt." In Debords Filmen fanden die Relikte der bleiernen Revolutionen neue Farbigkeit, seine Filme - "In girum imus nocte et consumimur igni", 1978, - spielten Lösungen durch für die Dialektik von Repräsentation und Simulation, den Mechanismen der modernen Gesellschaft.

Der Text wurde geschrieben 2002 in der Zurückgezogenheit von Goa - dort war Assayas bereits in seinen Wanderjahren gewesen. Poesie als Kriegserklärung gegen die Gesellschaft, Rückkehr zur Präsenz. Die Diskussionen der klassischen Linken hatten in einer schrecklichen Isolation geendet, in Distanz zur sinnlichen Welt. Debord - und später das Erlebnis des Punkrock, Sex Pistols und Clash - zeigten Assayas, dass es ein Zero, einen Neubeginn, geben konnte. Es ist die Energie der nächsten Nouvelle Vague, die Debord entzündete. Das Kino kann wohl nicht die Wahrheit des Augenblicks festhalten, aber die Melancholie darüber, ihn zu verlieren. Es entwickelt so, schreibt Greil Marcus in seinem Text über "Carlos", seinen Imperativ, sein Momentum. Der Film fängt selber zu denken an.

© SZ vom 20.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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