Süddeutsche Zeitung

Film "Alles außer gewöhnlich":Wir finden eine Lösung

Lesezeit: 3 min

Éric Toledano und Olivier Nakache lieben Inklusion und Repetition - auch in "Alles außer gewöhnlich".

Von Josef Grübl

Immer wieder zieht Joseph die Notbremse. Er zeigt schwer autistische Verhaltenszüge und wird von einem Laiendarsteller namens Benjamin Lesieur gespielt, der selbst Autist ist. Der junge Mann müsste Metro fahren, dann könnte er vielleicht sogar am Arbeitsleben teilnehmen - wäre da nicht, als unwiderstehliche Verlockung, die Notbremse. Immer wieder sagt ihm Bruno, sein ältester Betreuer, dass er die Notbremse in Ruhe lassen muss. Immer wieder verspricht Joseph, sich endlich daran zu halten - bis alles von vorn losgeht.

In ihrem neuen Film "Alles außer gewöhnlich" entdecken Éric Toledano und Olivier Nakache Parallelen zwischen Filmemachern und Autisten: Beide finden manchmal Gefallen an repetitiven Ritualen. Die französischen Regisseure bringen in ihren Filmen oft Menschen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Inklusion und Information scheinen ihnen wichtig zu sein, so auch hier: Erst klären sie auf, worum es geht, dann stecken sie den Rahmen ab - danach wird wiederholt, immer und immer wieder. Aber immer in der Hoffnung, eines Tages den großen Durchbruch zu erzielen.

Mit Joseph begann für Bruno (Vincent Cassel) und seinen Freund Malik (Reda Kateb) die Arbeit mit autistischen Jugendlichen. Die beiden Pariser Sozialarbeiter sind Spezialisten für die schweren Fälle, die Verweigerer, Systemsprenger und Notbremsenzieher. Sie kümmern sich um Menschen mit tiefgreifender Entwicklungsstörung, die angeboren ist und vor allem im sozialen Bereich auffällt, in sich wiederholenden Verhaltensweisen etwa, in der Kommunikation oder der Art, wie Reize verarbeitet werden. Im Kino und im Fernsehen werden solche Menschen oft als spinnerte Genies präsentiert, in "Rain Man" oder "The Big Bang Theory" etwa, mit der Realität hat das nicht viel zu tun.

Valentin rennt auch, allerdings mit dem Kopf gegen die Wand

Jeder Autist ist anders, was Bruno und Malik auch mächtig ins Schwitzen bringt. Die beiden sind immer in Bewegung, hetzen von einer Krisensituation zur nächsten, ihr Standardsatz lautet: "Wir finden eine Lösung." Emilie etwa läuft dauernd weg, sie schreit und schlägt um sich, kann Berührungen oder schützende Arme nicht ertragen. Valentin rennt auch, allerdings mit dem Kopf gegen die Wand. Ebenfalls immer und immer wieder. Deshalb muss er einen Boxerhelm tragen, er ist eine Gefahr für sich und andere.

Die Familien dieser jungen Leute sind verzweifelt, das Gesundheitssystem hat sie aufgegeben und die Verwahrung in der Psychiatrie angeordnet. Dieses Ausgrenzen und Ruhigstellen wollen Bruno und Malik verhindern, sie bringen Valentin zur Pferdetherapie und besorgen Joseph ein Praktikum in einer Waschmaschinenwerkstatt. Doch während der eine nicht aus dem Auto aussteigen will, ist der andere so besessen von einer Kollegin, dass er das Praktikum wieder beenden muss. Rückschläge gehören also dazu, sie sind der Alltag. Dazu kommen Probleme mit den Betreuern, die Malik aus den Banlieue rekrutiert, weil er ihnen eine Chance geben will - und weil er kaum jemanden findet, der diese Jobs machen will. Das ruft die Inspektoren von den Gesundheitsbehörden auf den Plan, sie wittern unprofessionelles und grob fahrlässiges Verhalten. Natürlich geht es auch ums Geld, darum geht es ja immer: In Zeiten von Rationalisierung und Effizienz finden Bruno und Malik mit ihrem Ansatz der individuellen Betreuung kaum Verständnis.

Die beiden gibt es wirklich, sie heißen zwar anders, leiten aber Vereine, die sich um junge Autisten kümmern, ihre Erlebnisse bildeten die Vorlage für den Film. Auch Driss und Philippe gibt es, ebenfalls unter anderem Namen. Die beiden Helden aus "Ziemlich beste Freunde" - ein Millionär mit Handicap und sein Pfleger mit krimineller Vergangenheit - bescherten Éric Toledano und Olivier Nakache im Jahr 2011 ihren größten Hit. Reale Vorbilder, echte Schicksale sind wichtig für sie, andernfalls könnte man ihre Erzählungen von Schwerbehinderungen oder sozialem Engagement schnell als Lehrstücke abtun. Die beiden Regisseure haben aber ein ziemlich gutes Gespür dafür, wie solche Themen zu verfilmen sind: Lebensnah und temporeich, mit möglichst viel Humor und ohne jede Rührseligkeit. Das schafften sie bei "Ziemlich beste Freunde", aber auch bei "Heute bin ich Samba" (Karrierefrau mit Burnout trifft auf abgeschobenen Küchenhelfer) und jetzt auch in "Alles außer gewöhnlich". Immer prallen scheinbare Gegensätze aufeinander: Bruno ist Jude, trägt Kippa unter seiner Baseballcap, Malik dagegen ist Moslem. Das erzählt der Film aber nur nebenbei, so wichtig erscheint das den realen Vorbildern wohl nicht, genauso hält es dann auch der Film. Diese Männer haben andere Sorgen- die repetitiven Rituale der Religionsstreitigkeiten gehören nicht dazu.

Hors normes , F 2019 - Regie und Buch: Éric Toledano und Olivier Nakache. Mit: Vincent Cassel, Reda Kateb, Hélène Vincent. Prokino, 113 Minuten

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SZ vom 05.12.2019
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