Film "Agnes und seine Brüder":Männer am Rande des Abgrunds

Ein Spießer, ein Loser und eine transsexuelle Tänzerin: Oskar Roehler verwebt drei Geschichten zu einem unglaublichen, tragikomischen Männerbild und einem deutschen Gesellschaftsporträt.

Von Hans Schifferle

In einer Stadtlandschaft zwischen Bonn, Köln und Düsseldorf leben sie, drei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Film "Agnes und seine Brüder": Drei Brüder: Der Loser Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu, l.), die transsexuelle Tänzerin Agnes (Martin Weiß) und Spießer Werner (Herbert Knaup, r.)

Drei Brüder: Der Loser Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu, l.), die transsexuelle Tänzerin Agnes (Martin Weiß) und Spießer Werner (Herbert Knaup, r.)

(Foto: Foto: AP)

Bei seinem filmischen Tryptichon gelingen Roehler zwei Dinge, die nur wenige deutsche Regisseure sonst zu leisten vermögen. Er verknüpft genaue Beobachtungen aus dem deutschen Alltagsleben mit Einflüssen aus der internationalen Literatur und dem Weltkino.

Wer hätte gedacht, dass sich Palahniuk oder Houellebecq so treffend in Düsseldorf relokalisieren lassen? Und zweitens kann Roehler ganz wunderbar mit Gattungen und Genremerkmalen jonglieren. Er kann das Ernste neben das Komische stellen, die Erotik neben die Satire. Er kann bitterböse sein zu seinen Figuren und verlacht oder verrät doch nie eine.

Drei Brüder, der älteste ist Werner (Herbert Knaup) - seine Geschichte ist eine Comedy, er bewegt sich am Rand zum Amoklauf. Man entdeckt darin Reminiszenzen an Roehlers früheren satirischen Film "Suck My Dick" und spürt ein paar Einflüsse aus Sam Mendes' Hollywood-Erfolg "American Beauty". Fast möchte man sagen, Knaup gebe als aufstrebender grüner Politiker einen furiosen Mix aus Kevin Spacey und Jürgen Trittin.

Aber der großartige Knaup spielt einen ganz eigenen verzweifelt-lächerlichen Mann. Von Werners Idealismus ist nur noch sein Einsatz für ein europäisches Dosenpfand übrig geblieben. Ansonsten ist er pingelig auf das Grün in seinem schmucken Anwesen bedacht. In seiner Villa hängt ein Spiegel mit einem kunstvollen Rahmen, auf dem stilisierte Dosen abgebildet sind. Geradezu desperat versucht Werner, die Liebe zu seiner gelangweilten Ehefrau zu recyclen, während ihn sein Teenager-Sohn, der ihn bei jeder bizarren Gelegenheit - selbst beim Defäkieren - filmt, nur noch nervt.

Katja Riemann ist wirklich stark als giftige, gefrustete Gattin, sie scheint ihre Rolle aus Wortmanns bekanntem Film fortzusetzen: Das hat man davon, wenn man einen "bewegten Mann" geheiratet hat.

Zwischen Wunschvorstellung und Albtraum

Drei Brüder, der mittlere heißt Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu). Seine Geschichte ist ein ziemlich wüster Sex-Thriller zwischen Wunschvorstellung und Albtraum. Man entdeckt Reminiszenzen an Roehlers frühere Liebesfilme "Gierig" und "Der alte Affe Angst", und man spürt ein paar Einflüsse von David Finchers Palahniuk-Verfilmung "Fight Club".

Aber Moritz Bleibtreu gibt einen authentischeren Loser und Sex-Maniac, als Hollywood sich zu zeigen traute. Die Einsamkeit und die Hormone treiben ihn zum Wahnsinn, wenn er all die bauchfreien Studentinnen in der Bibliothek beobachtet, in der er arbeitet. Dabei wird er von den berechnenden Mädchen oft genug nur ausgenutzt. Das wagen wohl auch bloß Roehler und Bleibtreu: einen Spanner zu zeigen, wie er Mädchen - nicht sehr erotisch - auf dem Klo beobachtet, und ihn doch als herzensguten Menschen zu charakterisieren.

Ähnlich wie Werner hat auch Hans-Jörg einen extrem erniedrigenden Moment zu durchstehen, als er auf einer Toilette bloßgestellt wird. Er landet schließlich in einer Männergruppe für anonyme Sexsüchtige, wo er prompt von einem Pornoproduzenten mit dem tollen Namen Manni Moneto rekrutiert wird. Das Porno-Business wird für ihn zum Schlaraffenland.

Männer am Rande des Abgrunds

Die unberührbare Agnes

Drei Brüder, und der jüngste heißt Agnes, er wird verkörpert von Martin Weiß. Allein, dass diese Agnes von einem noch unbekannten, aber grandiosen Schauspieler porträtiert wird, kennzeichnet die Figur als etwas Besonderes. Ihre Story ist ein klassisches Melodram, manchmal gar eine Heiligengeschichte. Man entdeckt vielleicht Reminiszenzen an Roehlers "Die Unberührbare", und man spürt den Einfluss von Fassbinder und Schroeter. A

gnes tingelt als Go-Go-Tänzerin durch die Nachtclubs. Sie lebt mit einem eifersüchtigen Proleten zusammen und hat eine mysteriöse, verwitterte Mentorin namens Roxy, die von der legendären Fassbinder-Aktrice Margit Carstensen gespielt wird. Als Agnes' große Liebe, der New Yorker Modeschöpfer Henry, nach Köln kommt zu einer Modenschau, droht auch Agnes, die dort auf ihn wartet in einem Brautkleid, ihren Moment der Erniedrigung zu erleben wie ihre Brüder.

Doch Agnes transzendiert diesen Moment durch ihre Unschuld und Natürlichkeit. Die Konfrontation mit Henry gehört zu den berührendsten Augenblicken in Roehlers Film. Die stolze, beinahe heilige Agnes, bei der alles auf Liebe und Tod zuläuft, ist der verschwindende Mittelpunkt der Geschwister-Saga, ein Medium auf der Suche nach dem Glück. Wären die drei Brüder ein einziger Mann, dann wäre Agnes trotz ihrer Körperlichkeit die Seele dieses Wesens.

Einmal, ziemlich am Anfang des Films, fahren die drei Brüder gemeinsam zum Vater, zu einer Psycho-Begegnung à la Ingmar Bergman. Nur Agnes hat eine natürliche Beziehung zu dem Vater, den Vadim Glowna - stets Roehlers filmische Vaterfigur - als eine Art heiliges, bisexuelles Monster mit wallendem Grauhaar spielt, ein Relikt aus den Sixties, auf das es kein Pfand mehr gibt. Die Mutter hat nur als Mythos existiert, sie soll als Inhaftierte in Stammheim ums Leben gekommen sein.

Drei Brüder 2004 - warum können sie nicht in den Sonnenuntergang reiten wie einst Adam, Hoss und Little Joe? Vielleicht, weil es einen deutschen Alltag gibt zwischen Kultur und Kabarett, zwischen Geschichte und Belanglosigkeit. Wenigstens müssen sie nicht in einer Talkshow auftreten, sondern sind in einem Roehler-Film gelandet, der das Leben dreidimensional durchleuchtet: amüsant, packend, zärtlich-schonungslos.

"Agnes und seine Brüder" ist auch ein großer unterhaltsamer Film geworden. Das macht die Abgründe, die sich plötzlich vor dem Zuschauer auftun, nur noch schrecklicher.

AGNES UND SEINE BRÜDER, D 2004 - Buch und Regie: Oskar Roehler. Kamera: Carl F. Koschnick. Mit Martin Weiß, Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Katja Riemann, Tom Schilling, Vadim Glowna, Margit Carstensen. X-Filme, 115 Min.

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