"Feuchtgebiete"-Lesung mit Charlotte Roche:Wir finden uns doch alle heiß

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Welche Offerten Charlotte Roche erhält und welche Anzüglichkeiten sie dem Publikum verheißt - ein Besuch bei einem feuchtfröhlichen Leseabend mit der Klassensprecherin der unbeschönigten Sexualität.

Ruth Schneeberger

Es wird, so heißt es, dem einen oder anderen Gaste derart schlecht bei Charlotte Roches Lesungen aus ihrem Roman "Feuchtgebiete", dass er umkippt. Das ist doch mal ein Ding, dachten wir, wenn Literatur heutzutage zu solchen Leistungen fähig ist, und machten uns auf die Suche nach Charlotte Roches ohnmachtsschwangerem Publikum.

Augen auf: Charlotte Roche. (Foto: Foto: Michaela Förster)

Also auf nach Stuttgart, wo ein großer Theatersaal ausverkauft ist. Da sitzen: junge Mädchen mit Ponyfrisur und Blümchen-Shirts, Herren mit Halbglatze im Hemd. Auf der Bühne vor einer riesigen Abbildung des Heiligtums namens "Feuchtgebiete", das im März der weltweit meistverkaufte Roman war, erscheint Charlotte Roche engelsgleich im wollweißen Mini-Kleidchen.

Doch wenn sie mit näselnder Stimme die pikantesten Passagen aus ihrem 220-seitigen Büchlein vorträgt, stößt die 30-jährige "Moderatorin, Produzentin, Sängerin, Schauspielerin, Sprecherin und Schriftstellerin britischer Herkunft" (danke, Wikipedia) vor lauter Verve ihre Wasserflasche um.

Es geht aber auch aufregend zur Sache: "Damit total klar ist, was ich von Anfang an wollte, schneide ich mir vorher ( vor einem Date, Anm. d. Red.) ein großes Loch in die Unterhose, damit man die Haare und die ganzen Schamlippen und so sieht. Also, die ganze Pflaume soll rausgucken. Ich trage natürlich immer einen Rock. ... Der Finger berührt dann direkt und ohne Vorwarnung meine triefende Muschi." Eine "Feuchtgebiete"-Lesung ist voll von solchen Zitaten, trieft also gewaltig. Und das Publikum? Grölt vor Lachen und Zustimmung. Charlotte Roches Fans sind in Minutenschnelle ganz bei ihrer großen Meisterin, welche die Frau, das unbekannte Wesen - auch für jeden, der schwer von Begriff ist - zu entzaubern angetreten ist.

Keine Körperöffnung, die von ihr unangetastet bliebe, kein Geheimnis, das der Männerwelt nicht vor den Kopf geknallt werden müsste, und sei es noch so unappetitlich. "Anal-Bleaching kann man auch in Stuttgart machen, ich habe mich erkundigt", verkündet sie in der anschließenden Fragestunde. Was das denn überhaupt sei? "Na ja: Wenn sich jetzt alle untenrum rasieren, dann sieht man ja alles, ne? Und das Popoloch, das ist ja nur bis zum Teenageralter rosa. Ist das also jetzt schon pädophil, wenn ich mir die Rosette bleachen lasse?"

Bis zum Erbrechen reproduziert

Das ganze Theater ist ein einziges Auf- und Abschwellen von Lachen. Nix mit Umkippen. "Schwanzbeule." Lachen. "Arschwunde". Quietschen. Charlotte Roche schleudert ihre "Feuchtgebiete"-Vokabeln über Selbstbefriedigung, Rasurzwang und Hämorrhoiden in den Saal, wo sie begierig geschluckt und aufgeregt bekichert werden. Wir sind auf großer Klassenfahrt und Charlotte Roche ist die gefeierte Klassensprecherin der enttabuisierten, unbeschönigten Sexualität. Keine vor ihr scheint das Thema so frech und zugleich massenkompatibel, so provozierend in Popkultur verpackt, so befreiend wie bespaßend aufgegriffen und gleichzeitig mit ihrer Person verknüpft zu haben. "Die traut sich einfach mal was", sind sich zwei Freundinnen aus Stuttgart einig.

Gleichzeitig gelingt es ihr, sich mit ihrem Auftreten von der Ernsthaftigkeit der Debatte zu distanzieren. Wie denn ihr Mann auf das Buch reagiert habe, möchte ein Mädchen wissen. "Der Arme", verrät sie. "In Köln wird er jetzt immer so komisch auf der Straße angeguckt, beim Bäcker und so. Die denken bestimmt alle: Dieser nette, arme Mann, was macht der nur an der Seite dieser schrecklichen, stinkenden Frau, die zwingt den bestimmt, ganz schlimme Sachen mit ihr zu machen." Grölen.

Charlotte Roche spricht, wie sie schreibt: kindlich. Mit ihrer bewusst unbeholfenen Art nähert sie sich ihren Fans bis auf Freundinnen-Ebene. Die Emanze zum Anfassen, ganz ohne böse Attitüde Männern oder gar der Gesellschaft gegenüber. Wir wollen doch nur Spaß, allerdings ein bisschen schmutzigen, wenn's geht. Denn sauber und sexy, das sind schon die anderen, davon hat die glitzernde Heidi-Klum-Welt, die viel eher zum Erbrechen ist, genug reproduziert. Das hier ist anders, das ist echt. Man wägt sich fast in einem Viva-Studio, das Publikum voller pubertierender TV-Junkies, die Scheinwerfer heizen die Stimmung an.

(Foto: Foto: dpa)

"Ich bin die neue Erika Berger"

Da meldet sich ein Grauhaariger, fragt, ob er kurz auf die Toilette gehen dürfe, weil ihm so heiß geworden sei. "Wenn wir alle mitgehen dürfen?", lispelt Roche. Später wird sie weiteren alleinstehenden Herren anbieten, sie nach der Lesung näher kennenzulernen. Das ist das Spiel: Wir reden möglichst schmutzig über Sex, wie nach einem bierseligen Abend unter Freunden, wir finden uns doch alle heiß.

Am Ende wird die Autorin allerdings verkünden, dass ihr nächstes Buch nicht von Sex handeln wird, sondern vom Münzensammeln. "Weil ich es nicht so schlimm finde, wenn mir Münzensammeln im Privaten verdorben wird." Schließlich habe sie seit Januar über nichts anderes als über Sex geredet. Mit Journalisten, vor der Kamera, mit dem Publikum. Da bliebe nicht mehr so viel Lust übrig für zu Hause. Wir tun ja nichts, wir wollen ja nur spielen.

"Ich werde jetzt schon als die neue Sex-Expertin gehandelt, ich bin die neue Erika Berger", empört sich die ehemalige Viva-Moderatorin. "Ich soll Sex-Ratgeberin für Jugendliche im Fernsehen werden, das finde ich sehr lustig, wie kommen die da drauf?" Na, wie wohl?

Dadurch, dass Charlotte Roche sich gleichzeitig ironisch von ihrer Aufklärungsarbeit distanziert, hat sie einmal mehr das Publikum auf ihrer Seite. Und kann danach unter Beifall wieder verkünden, dass es ihr eigentliches Ziel sei, gegen die frisch glänzende Werbewelt anzugehen, in der Frauen stets unbehaart und wohlduftend umhertänzelten. "Ich wollte mit der Romanfigur Helen Memel eine Figur schaffen, die sich von solchen Mustern befreit", erklärt sie den Stuttgartern.

Bei der anschließenden Autogrammstunde ist sie wieder die Klassensprecherin, als hätte sie gerade eine flammende Rede gehalten und würde nun von jüngeren Schülern bedrängt, die ihr zur Wiederwahl verhelfen wollen. "Es leben die Achselhaare!", schreibt sie auf Wunsch auf Plakate mit ihrem Konterfei. Wenn Deutschland einen neuen Feminismus hat, dann trägt er tatsächlich das Gesicht von Charlotte Roche. Ob ihm das nun gefällt oder nicht. Denn einen Dienst hat die Autorin mit dem Spitzbubenlächeln ihren Geschlechtsgenossinnen mit Sicherheit erwiesen: Sie stellt Rollenklischees auf pikantem Gebiet definitiv in Frage. Und ihre Fans schließen sich an.

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