"Feuchtgebiete" im Kino:Es geht um Leben und Tod

"Feuchtgebiete" im Kino

Am liebsten blutverschmiert: 27-jährig, spielt Carla Juri in "Feuchtgebiete" die 18-jährige Helen Memel.

(Foto: Majestic)

Von "gottlos" über "mutlos" bis zu "nervig" reichen die Kritiken für den "Feuchtgebiete"-Film nach dem Roman von Charlotte Roche, der jetzt ins Kino kommt. Dabei ist er in erster Linie: gekonnt umgesetzt.

Von Ruth Schneeberger

Von Anfang an wurde dieses Buch skandalisiert. Einen Teil hat Charlotte Roche als Autorin und TV-Erprobte selbst dazu beigetragen, weil es ihr ein starkes Anliegen ist, zu provozieren.

Eine Teilschuld trägt auch Helene Hegemann, deren Namen die Öffentlichkeit heute schon fast wieder vergessen hat, die aber nach dem Erscheinen von "Feuchtgebiete" einen nicht ganz unähnlichen Roman namens "Axolotl Roadkill" auf die Welt gebracht hat. Der in den Feuilletons zunächst als Literatursensation gefeiert und später unter Plagiatsverdacht genauso schnell wieder verworfen wurde.

Diese jungen Dinger mit ihren unschönen Sexphantasien, war in der aufgeregten öffentlichen Debatte um Roche und Hegemann oftmals zu hören und zu lesen, warum müssen die denn jetzt auch noch alle Bücher schreiben?

Eigentlich ist es ja schön, wenn heutzutage Literatur, die auch noch das Massenpublikum anspricht, so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, dass eine halbe Gesellschaft monatelang darüber diskutiert. Allerdings fühlte sich ein Teil dieser Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen so vehement in ihren Grundfesten angegriffen, dass die Debatte dem Buch nicht gerecht wurde.

Kein billiges Machwerk

Es ist eben nicht so, dass "Feuchtgebiete" das billige Machwerk einer oberflächlichen und öffentlichkeitsgeilen TV-Tussi ist, die mit möglichst viel Sex und Ekel über ein Massenpublikum Geld scheffeln will, wie es teilweise sogar aus den seriösesten Stuben des Feuilleton zu vernehmen war. Wer das Buch wirklich und ernsthaft gelesen hat, kommt nicht umhin, zu attestieren, dass es zwar keine Hochliteratur, aber sowohl vom sozialpolitisch-feministischen Standpunkt aus interessant als auch recht unterhaltsam und manchmal sogar schreiend komisch ist.

Und nicht zuletzt: Mit 2,5 Millionen Käufern wurde es allein in Deutschland zum Bestseller. Das liegt nicht nur daran, dass es um Sex und um Ekel geht. Sondern auch daran, dass sich viele Leser wenn schon nicht in der Antiheldin wiederfinden, dann doch ihre Gedanken rund um Hygienewahn, Achselrasur, Analfissur und Selbstbefriedigung, aus Sicht der Frau bisher eher unterrepräsentierte Themen, eben doch höchst interessant finden.

Nun also der Film zum Buch. Sowohl das Filmplakat als auch die Vorab-Kritiken ließen Unschönes erwarten: Von einem pinken Plakat kommt einem der in Deutschland noch unbekannte Schweizer Nachwuchs-Star Carla Juri mit kunstvoll abgeblättertem Fingernagellack unangenehm nahe. Der Gesichtsausdruck: eher leer. Die Machart: eher billig.

Gesucht: die schlimmste Sex-Szene

Auch die Kritiken überschlugen sich keinesfalls mit Lob. Zwar wird der Film überall groß besprochen, einige attestieren sogar: besser als das Buch. Doch gleichzeitig wird meist ausdrücklich betont, dass das Buch ja keine große Literatur und in weiten Teilen nicht ernst zu nehmen gewesen sei. Und dass es nur dem Regisseur David Wnendt ("Die Kriegerin") zu verdanken sei, dass er aus der lahmen Geschichte noch so etwas wie Inhalt herausgeholt habe.

Ausführlich werden wahlweise die schlimmsten oder die erotischsten Szenen beschrieben, am Ende kommen die meisten Kritiker zu einem mehr oder weniger deutlichen Urteil. Zu demonstrativ und deshalb nervig, zu explizit und deshalb per se abzulehnen schreiben die einen. Zu verniedlicht und verharmlost, deshalb der politischen Schärfe der Vorlage nicht gerecht werdend, befinden die anderen. Immerhin einig sind sich die meisten: So schlecht sei der Film nicht, aber halt so eklig.

Das ist in etwa das umgekehrte Urteil gegenüber der Rezension des Buches 2008, als es im Großen und Ganzen hieß, das Buch sei komplett harmlos, es werde nur gelesen wegen der Sex-Szenen.

Das Verblüffende ist: Es ist alles ganz anders.

Das Mädchen penetriert selbst

Weder war das Buch 2008 inhaltlich harmlos, noch ist der Film nun besser oder verniedlichend. Wer sowohl die literarische Vorlage als auch den zweiten Roman von Charlotte Roche gelesen und verinnerlicht hat und in der Lage ist, auch den Film nicht allein auf seine provokativen Ekelszenen zu reduzieren, der kann attestieren: Buch und Film bauen perfekt aufeinander auf. Durch die Verfilmung von David Wnendt wird die in Teilen noch laienhaft zurechtgeschusterte, aber durchaus explosive Coming-of-Age-Geschichte von Charlotte Roche komplettiert und für ein noch breiteres Massenpublikum zubereitet.

Film "Feuchtgebiete" nach dem Roman von Charlotte Roche im Kino

Gerne auf dem Klo, den Finger im Po: Helen tastet nach ihren Hämorrhoiden. Und weil es gerade so schön ekelig ist, schmeckt sie auch gleich noch ihre Vaginalflora ab.

(Foto: Majestic Filmverleih)

Buch und Film zusammen ergeben - ergänzt durch die in Deutschland zwischenzeitlich offenbar nötig gewesene Diskussion darüber, was junge Autorinnen sagen, denken, fühlen oder zeigen dürfen - ein geradezu großartiges Gesamtwerk.

Durchaus gesellschaftskritisch, erzählt es davon, was aus einem Scheidungskind werden kann. Welche Prozesse im Inneren eines Kindes ablaufen, dessen Eltern sich vor allem mit sich selbst beschäftigen. Hin- und hergerissen zwischen Mutter und Vater, Liebe und Hass, Ich und Wir, pendelt es im Zustand des Erwachsenwerdens zwischen Ohnmacht und Wut, zwischen Selbstverletzung und Selbstbefriedigung, zwischen Ausprobieren und Anpassung. Dass dabei auch noch sowohl ein permanenter Sexualtrieb als auch die Lust an der steten Provokation unter einen Hut zu bringen sind, soll nicht ablenken von der eigentlich tragischen Geschichte, sondern sie noch mehr befeuern. Nur so viel sei verraten: Es geht nicht nur um Aufmerksamkeiterregung durch theatralische Selbstverletzungen. Sondern auch um Selbstmord.

Im Film gelingt die Darstellung des prallen Lebens in all seinen dubiosen Facetten vor allem den Nebendarstellern hervorragend. Meret Becker als hilf- und orientierungslose Bad Mom und Axel Milberg als genauso hilflos-selbstsüchtiger abwesender Vater, die ihr Leben zwar irgendwie meistern, das aber zum Teil auf Kosten der Tochter, leisten Großes, um zum Verständnis der Geschichte beizutragen. Denn der Zuschauer kann ihnen genauso wenig dauerhaft böse sein wie die Heldin selbst: Sie sind eben unfähig, da ist kein böser Wille.

Humor muss man schon haben

Und dann die Hauptdarstellerin: Carla Juri gelingt es hervorragend, den von der Kritik grandios als "pseudobekifften Kleinmädchenton" identifizierten Singsang von Charlotte Roche nachzuahmen. Zusammen mit ihrem Schweizer Slang klingt das recht lustig - und genau das soll es auch sein. Denn eines ist in diesem Zusammenhang nie zu vergessen. So tragisch die Geschichte vom Erwachsenwerden für manch Einzelnen und für Charlotte Roche im Besonderen sein mag; die große Stärke der Autorin ist es, die in der Tat sehr traurigen Familienereignisse in eine urkomische Geschichte zu verpacken. Und genau das kitzeln sowohl der Regisseur als auch die Hauptdarstellerin des Films angemessen heraus.

Burschikos flitzt Heldin Helen deshalb auf ihrem Skateboard durch Berlin, immer auf der Suche danach, möglichst alles anders zu machen als ihre Eltern - und sie am Ende doch wieder zusammenzubringen. Denn ein Kind sehnt sich fast immer nach einer heilen Familie, auch wenn es beide Elternteile kaum ertragen kann und sie seinerseits bis zur Unerträglichkeit provoziert. Manchmal auch nur in seinem eigenen Kopf.

Demonstrativ verschmutzte öffentliche Toiletten mit den Schamlippen sauberreiben, sich von einem Unbekannten untenrum rasieren lassen, der Krankenschwester ihren Freund ausspannen, Madonnenfiguren mit Blut beschmieren, mit der besten Freundin benutzte Tampons tauschen, möglichst dampfig aus der Unterhose riechen, um möglichst viele Sexualpartner anzulocken, von Pizza mit Spermaspuren phantasieren. All das gehört für Helen dazu, um anders, um interessant zu sein, und um zu ihrem Recht zu kommen. Zu ihrem Recht auf Selbstbestimmtheit abseits des mütterlich vorgeschriebenen Hygienewahns, zu ihrem Recht auf Sex nach ihren eigenen Vorstellungen, möglichst abseits der gesellschaftlichen Norm. Und zu ihrem Recht als Mädchen, sich mindestens genauso daneben zu benehmen wie die Jungs in ihrem Alter, inklusive Drogenexzessen, Einzelgängertum und dem Recht auf komplette Verpeiltheit.

Nicht ablenken lassen vom Teenie-Gepose

Hier geht es auch um Macht: Alles, was man im jugendlichen Alter ausprobieren, falsch machen und austesten kann, das macht diese Helen eben. Und schert sich einen Dreck darum, ob das auch wirklich ein mädchengerechtes Verhalten ist. Im Gegenteil. Sie macht es, um zu zeigen, dass sie es kann - und will.

Das ist auch schon das ganze Geheimnis um die ominösen Sex- und Ekelszenen in Film und Buch. Sie dienen der Provokation, ja, sie wollen Aufmerksamkeit erregen, genau. Aber es ist dieselbe Provokation, die auch 16-jährige Teenager lieben, wenn sie einen auf dicke Hose machen. Nur ist es eben hier ein Mädchen, das einen auf dicke Hose macht.

Und das ist genau das Problem. Das Mädchen penetriert den Zuschauer. Nicht andersherum. Manche finden das gut und witzig, andere finden es schlicht ekelhaft. Das große Verdienst des Filmes nun ist es, die expliziten Szenen zwar durchaus zu zeigen, und auch genauso weit, wie es der Leser des Buches erwarten darf. Sie in ein ähnlich humoristisches Licht zu setzen wie das auch Charlotte Roche macht. Allerdings dient das im Film nur dem Dekor und der Unterhaltung.

Was der Film darüber hinaus zielgenau auf den Punkt bringt, ist: dass es in dieser Geschichte um ganz existenzielle Dinge geht, abseits von Blut und Exkrementen und schnellem Sex. Dass das Leben manchmal dann am intensivsten erfahren wird, wenn es ganz nahe am Tod vorbeischrammt. Dass viele von uns mit kleineren oder größeren Traumata leben, die wir teilweise verdrängt haben und die uns zu merkwürdigen Charakterzügen verhelfen, die wir uns selbst nicht immer ganz erklären können. Dass der Mensch dazu in der Lage ist, extrem belastende Situationen auszuhalten, zu verarbeiten oder durch Übersprunghandlungen zu konservieren - bis irgendwann der Knoten platzt. Und dass manchmal die schwierigsten Persönlichkeiten den größten Respekt verdienen. Weil sie es schaffen, sich selbst auszuhalten. Und nicht zuletzt: Dass Kinder aus kaputten Familien daran kaputt gehen können. Dass es aber auch anders laufen kann.

Zum Schluss serviert der Film ein Happy End, das das Buch so nicht hergibt. Und selbst darin liegt David Wnendt genau richtig. Er bringt die Geschichte, die Charlotte Roche zu diesem Zeitpunkt noch nicht zufriedenstellend abschließen konnte, weil es ihre eigene ist, zu einem versöhnlichen Ende. Und zeigt damit Tausenden von Teenies, denen es ein bisschen ähnlich geht wie ihrer Heldin und die nun in Heerscharen in die Kinos strömen werden: Es ist alles gut. Ihr seid total nervig, aber das geht vorbei.

Dieser liebevolle Blick auf die Unzulänglichkeiten der menschlichen Existenz eint Wnendt und Roche. Und er macht aus den "Feuchtgebieten" am Ende großes Kino. Das war in der Tat nicht zu erwarten, aber man kann es auch einfach mal als das nehmen, was es ist - egal, ob und wie sehr man sich dabei ekeln mag: eine angenehme Überraschung.

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