Festspiele in Bayreuth:Parkett links, Reihe 16, Platz 9

Eine Pilgerfahrt jenseits des Glamours: Walter Odrowski, Jahrgang 1917, hat sein Leben lang von Wagners Musik geträumt. Er ist ein Jünger, wie Wagner ihn sich erträumt hätte.

Renate Meinhof

Walter Odrowski, Intendant der ,,Eppendorfer Heimoper'', hat sein Leben der Musik geweiht, und dass er nun, schlecht zu Fuß und auch sonst den Gebrechen des Alters erlegen, doch noch den Lohn dafür empfängt, muss höheren Mächten zu danken sein. Ja, bitte, wem denn sonst?

Walter Odrwoski Bayreuth Wagner Regina Schmeken

Wie Franz Liszt, jedenfalls aus der Ferne gesehen: Walter Odrowski aus Hamburg-Eppendorf an seinem Sehnsuchtsort.

(Foto: Foto: Regina Schmeken)

Es ist das letzte Mal, dass Odrowski von Hamburg zum Grünen Hügel aufbricht, nach Bayreuth, zu den Festspielen. Ein paar Tage wird er bleiben. ,,In meinem Alter spürt man, wenn man auf der Zielgeraden ist'', hatte er gesagt, als der Zug sich in Hamburg-Dammtor lautlos in Bewegung setzte, und wenn man ihn eine Weile begleitet hat, weiß man, dass es nichts Dahingesagtes war. Walter Odrowski ist Jahrgang 1917. Sein Lohn war eine Premierenkarte für die ,,Meistersinger'' und die Einladung zum anschließenden Staatsempfang des Herrn Ministerpräsidenten Stoiber. Zum ersten Mal ein Staatsempfang, zum ersten Mal eine Premiere.

,,Heil dir, Franken!''

Parkett links, Türe IV, Reihe 16, Platz 9 hat er gesessen, zwei Reihen vor Roberto Blanco und ein gutes Stück hinter Gloria von Thurn und Taxis, Ivan Rebroff und Thomas Gottschalk mit den goldenen Schuhen.

Aber Walter Odrowski war vor ihnen da. Eigentlich in jeder Hinsicht.

Tastenden Schrittes und gegen drei schon hatte er den roten Teppich vorm Festspielhaus betreten, als die Fotografen und Kameraleute hinter der Absperrung brüllten: ,,Hallo, wer ist das? Winken Sie doch mal!'' Da winkte er, zögernd erst und mit der Linken, weil die Rechte den Gehstock halten musste. Ein Lächeln flog ihm ins Gesicht, und schließlich rief er so laut seine Stimme es hergab: ,,Heil dir, Franken!''

Und die Blitzlichter blitzten und die Auslöser klackten, und manche lachten über den Alten mit dem ohrlangen Haar, der Franz Liszt hätte sein können, aus der Ferne gesehen. Odrowski aber hörte von all dem nichts. Er hatte doch längst seinen Wagner im Ohr, alles hat er im Ohr. Die Stelle aus dem ,,Siegfried'', dritter Akt, dritte Szene, als Brünnhilde singt: ,,Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!'' Auf dem Felsen, wissen Sie, wenn Brünnhilde erwacht und Siegfried, der Lichtsohn ...

Walter Odrowski sitzt auf dem Bett seines Zimmers im Hotel Schlemmerland in der Kulmbacher Straße in Bayreuth, wo er noch gerade ein Zimmer hatte buchen können. Es ist der Tag nach der Premiere. Er sieht müde aus. Er sieht aus, als habe er sich Mühe gegeben zu verwinden, was Katharina, Wolfgang Wagners Tochter, aus seinen Meistersingern gemacht hat, aus seinem Stolzing, aus seinem Hans Sachs, diesem Witwer, der Schuhe flickt, der Verse schreibt und sich damit begnügt, den Liebeleien seiner Kunden zuzuschauen.

Sachs, ein Held des Verzichts, mit dem er sich ein Leben lang identifizieren konnte. Nun gut, der Musik kann man am Ende nichts anhaben, was immer da vorn auf der Bühne passiert. Sie ist ja erst 29, Katharina, und Odrowski hat sie früher manchmal gesehen, wie sie Ball spielte, ein Kind vorm Festspielhaus, dem später die Welt zu Füßen liegen würde. Bei dieser Herkunft.

Und er saß nur da, manchmal Stunden auf einer Bank nahe der Poststelle und starrte das Haus an wie einen Tempel, den zu betreten er nicht würdig war. Es kam auch vor, dass er zu den Frauen ins Kartenbüro ging und ein bisschen mit ihnen erzählte, und manchmal kam Wolfgang Wagner vorbei. Sie redeten dann ein paar Worte miteinander, so ist man sich näher gekommen über die Jahre. Wagner ist zwei Jahre jünger als Odrowski. ,,Ich habe an diesem Ort so viel Erhabenheit empfunden'', sagt er.

Parkett links, Reihe 16, Platz 9

Schwester Susanne vom ambulanten Pflegedienst ,,Pflege mit Herz'' hat Odrowski gerade die Beine gewickelt, und zwar so kunstvoll und klug, dass die orthopädischen Schuhe, die er eigens für Bayreuth hat anfertigen lassen, nicht drücken, wie es beim Umsteigen in Nürnberg noch der Fall gewesen war.

Auf einem Bügel hängt sein neues schwarzes Hemd, darüber das weinrote Jackett und die Fliege, die ihn um eine Stunde Nachtschlaf gebracht hat, weil er den Haken nicht aus der Öse kriegte. Zwischen dem roten Teppich und Walter Odrowskis Hamburger Wohnung liegen 420 Kilometer, das sind gut fünf Stunden mit der Bahn. Wenn man Bayreuth kennt und Odrowskis Wohnung auch, könnte man meinen, es liegen Welten dazwischen.

Walter Odrowski wohnt in der Tarpenbekstraße, wo man des Verkehrs wegen auch nachts nicht Ruhe findet, wenn die Fenster offen stehen. Deshalb schläft er nach hinten raus, in dem Bett, das seiner Mutter gehörte. Seit dreißig Jahren ist sie tot. Als sie starb, hatte er das Gefühl, ,,irgendwie verloren zu sein'', die Wärme war weg, die Nähe. ,,Wissen Sie'', sagt Odrowski, ,,ich habe die Frauen dann eigentlich von ihrer angenehmsten Seite kennengelernt, nämlich gar nicht''.

Drei Zimmer also in der dritten Etage, 1935 zog die Familie dorthin. Wladislaus Odrowski, der Vater, stammte aus Thorn in Westpreußen und verdiente das Geld für die Familie, indem er Kesselanlagen prüfte. Die Mutter hieß Olga Amanda, war eine geborene Rumohr und brachte fünf Söhne zur Welt. Heinz, Walter und Kurt schliefen im Balkonzimmer. Werner und Claus, die Kleinen, durften ins Bett der Eltern. Das Balkonzimmer ist es auch, das in den letzten siebzig Jahren die einzige Veränderung geschluckt hat, die der Wohnung anzusehen ist, auf den ersten Blick jedenfalls.

Der Vater sagte: "Ruhe!"

Wladislaus Odrowski war ein strenger Mann, und wenn Walter zu singen begann, am Abend manchmal, so nebenbei, wie Kinder es tun, verbot er es ihm und sagte: ,,Schuster, bleib' bei deinem Leisten''. Walter sang trotzdem, sang mit siebzehn an der Oper vor, wo man ihm riet, sich unterrichten zu lassen.

Um den Unterricht bezahlen zu können, arbeitete er tags bei einer Versicherung, und abends lief er zu Fuß zur Gesangsschule "Geishöfel und Flechsig", damit er das Geld für die Bahn sparte. Weil es hieß, rudern erweitere den Brustkorb und mit ihm die Stimme, ruderte er. "Kind, hältst du das auch durch?", fragte die Mutter manchmal, und der Vater sagte: "Ruhe!"

Als der Krieg kam, zog man die Söhne zu den Soldaten. Walter kam an die Westfront, dann an die Ostfront, dann wieder in den Westen, dann in Gefangenschaft. Er war bei der Flak. Odrowski sagt: ,,Es war da alles gestorben in mir, es ging nur ums Überleben''. Wer denkt ans Singen, wenn man Flugzeuge abschießen soll?

Nach dem Krieg arbeitet er als Expedient bei einer Spedition im Freihafen. Was er verdient, trägt er in die Oper, und manchmal schreibt er Gedichte. Wovon er aber träumt, ist Bayreuth. Bayreuth im Sommer. Bayreuth, wohin er pilgert, auch wenn er keine Karte hat. Wovon er träumt, ist eine Oper, in der Geld keine Rolle spielt, und das ist schließlich ein Wagnerscher Gedanke. Richard Wagner, der die Plätze seines Festspielhauses den ernsthaften Jüngern der Musik vorbehalten wissen wollte, und nicht dem oberflächlichen Publikum. In Bayreuth ist das schiefgegangen, Wagner wusste das. Und Odrowski bekam es zu spüren, ein ganzes Jahrhundert später. Die einzige Qualifikation, die hier vom Besucher verlangt wird, ist Geld. Oder Beziehungen.

Nein, in Hamburg sollte das Experiment nicht schiefgehen. Die Idee war, den Gedanken der Wagnerschen Volksoper in seinem eigenen Wohnzimmer zu verwirklichen. Dafür hat er lange gearbeitet. Walter Odrowski sagt: ,,Ich hatte nie Achtung vor dem Geld, aber von meiner Idee war ich begeistert''.

Parkett links, Reihe 16, Platz 9

Weit bis ins Rentenalter hinein hat er für eine Arztpraxis Laborproben durch Hamburg gefahren. Als er das Geld zusammenhatte, kaufte er einen Karbonschirm für 9000 Mark, drei mal vier Meter groß. Dazu einen Projektor von Sanyo für 22000 Mark und dann noch zwei Boxen, jede 3500 Mark wert. Zwischen den Boxen im Balkonzimmer, wo einst die Jungen schliefen, hängt nun der Karbonschirm, und auf den Boxen stehen Amphoren mit Blumen, die nie welken, davor Stühle und Sessel und Sofas, drei Kerzen und die Büste Richard Wagners, ein Gipsguss.

Das Licht lässt sich mittels einer Fernbedienung herunterdimmen, nur einen Vorhang gibt es nicht. Odrowskis Heim ist eine Oper, die ,,Eppendorfer Heimoper'', wie er sie genannt hat, damals, 1993, als alles begann. Alle zwei Monate schreibt er Programme, lädt seine Freunde ein und die Nachbarn, um die Rheintöchter zu feiern, um Siegfried zu sehen, den Lichtsohn, und Brünnhilde zu hören, die auf dem Felsen erwacht.

Anstand beim Applaus

,,Wir erzeugen tatsächlich Orchesterklang'', sagt Odrowski, ,,und neulich, beim Tristan, hatten wir alle Tränen in den Augen.'' Er lässt sich in den Stuhl fallen, der vor dem Fenster seines Zimmers steht. Das Fenster ist offen. Unten, im Hof des Schlemmerland-Hotels, läuft das Mittagsgeschäft mit unklarem Geraune. Odrowski hat Glück mit den Wirten. Sie halten ein Auge auf ihn, und Nagam, die junge Irakerin, die im Schlemmerland als Putzfrau arbeitet, hatte ihm für die Premiere sogar das Hemd aufgebügelt. Odrowski wirkt jetzt, als falle es ihm schwer, sich von der Vorfreude zu lösen, die ihn durch die letzten Monate getragen hatte, und von der er hoffte, sie möge in reine Freude übergehen, in einen Bayreuther Glanz, der ihm anhaften würde, in der Tarpenbekstraße noch, wenigstens doch, bis die kalten Tage kommen.

Wirklich schon alles wieder vorbei? Was hatte er sich für Gedanken gemacht. Für Wolfgang Wagner und dessen Frau Gudrun hatte er zwei weiße Tassen gekauft und mit einem Foto bedrucken lassen, das ihn, Odrowski, mit den Wagners zeigt. Die ganze Fahrt über hatte die Angst ihn nicht losgelassen, die Tassen könnten zu Bruch gehen. Er hatte den Pflegedienst in Bayreuth bestellt und den Hermes-Versand, um den Koffer zu transportieren. Und dann der Tag der Premiere. Zwei Kissen mussten im Festspielhaus reserviert werden, weil die Stühle so hart sind. Er vermied es zu trinken an diesem Tag, damit er ja nicht in die Verlegenheit geriete, die Reihe 16 notgedrungen aufzuscheuchen. Während der Pausen saß er, wo er immer gesessen hatte: auf der Bank nahe der Poststelle.

Als der Vorhang fiel, nach dem letzten Akt, hat er sich aufhelfen lassen von den Nachbarn, um zu klatschen. In die Buh-Rufe hinein hat er geklatscht, einerseits aus Achtung vor der Musik, andererseits aus Anstand und Loyalität den Wagners gegenüber. Wie hatte er gesagt? Der Musik kann man am Ende nichts anhaben. Odrowski klatschte noch, als sich ein paar Reihen vor ihm zwischen Gloria von Thurn und Taxis und Ivan Rebroff folgendes kurze Gespräch entspann. Die Prinzessin, klatschend: ,,Ein Feuerwerk, nicht wahr?'' Rebroff, auch klatschend: ,,Eine Walpurgisnacht!'' Die Prinzessin: ,,Aber die meisten fanden das ja nicht.'' Rebroff: ,,Das muss uns egal sein, meine Liebe, Oper ist immer für die Minderheit.''

Taft und Strass und Alkohol

Walter Odrowski hat das nicht gehört, er war auch zu sehr damit beschäftigt, die zwei Kissen in der einen Hand zu fassen zu kriegen, weil er die andere für den Stock brauchte. Als die lange Schlange schwarzer Limousinen sich hügelab bewegte, nahm auch er ein Taxi, um zum Staatsempfang ins Schloss zu fahren. Es war schon elf, zu spät für einen Mann von neunzig Jahren, und Odrowski hoffte, auch seiner schwindenden Aufmerksamkeit wegen, auf einen kleinen Rahmen. Es war dann aber ein großer Rahmen, zu groß für Walter Odrowski nach gut fünf Stunden Meistersinger. Er geisterte durch die Massen auf der Suche nach den Wagners, denen er doch wenigstens die Hand schütteln wollte. Endlich gelang es ihm, einen Platz auf einer der weißen Bänke im Freien zu besetzen, wo er dann saß, einen Teller mit italienischen Vorspeisen in der Hand und später Semmelkloß mit Pfifferlingen.

Jetzt hatte er die Leute in Hüfthöhe vor sich. Die Gürtelschnallen von Politikern, Fernsehgrößen, Verlegern, Bürgermeistern und Diplomaten, die Taftschleifen ihrer fülligen Gattinnen und Töchter, die strassbesetzten Abendtäschchen und goldenen Schuhe. Er hörte die Albernheiten alkoholgetränkter Komplimente und wünschte, es möge nun bald vorbei sein. ,,Jetzt essen die hier auf, was die Armen erarbeitet haben'', sagte Odrowski plötzlich wie aus dem Nichts, nahm einen Schluck vom Silvaner und ließ sich Richtung Ausgang führen.

Da sieht er den Ministerpräsidenten Stoiber inmitten der Menge, und weil er ihm doch danken will für die Einladung, geht er zu ihm und klopft ihm vorsichtig von hinten auf den Rücken. Einmal, zweimal. Aber Stoiber reagiert nicht, dreht sich nicht um. ,,Will nicht, der Bursche'', sagt Odrowski. ,,Na macht nichts, nächstes Jahr ist der auch nicht mehr hier. Wie ich.'' Die Wagners kann er nicht finden im Gedränge, aber kurz vorm Ausgang kommt ein Mann auf ihn zu. ,,Ich hab' Sie heute dreimal gesehen'', sagt er, ,,erst auf dem roten Teppich, dann in der Pause und hier auch noch mal. Gestatten Sie die Frage: Wer sind Sie eigentlich?''

Walter Odrowski stand sehr aufrecht und sah dem Mann in die Augen, als er sagte: ,,Ich bin ein Sänger aus Hamburg.''

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