Süddeutsche Zeitung

Festival:Zersplitternde Seelen in Zeitlupe

Das bestens besuchte 16. Münchner "Dance"-Festival hat zehn Tage lang das Scheitern und Gelingen menschlicher Kommunikation untersucht - im Berliner Techno-Club wie in den Favelas Brasiliens

Von Eva-Elisabeth Fischerund Rita Argauer

München eine Tanzstadt? Beim Festival "Dance" könnten das auch unverbesserliche Zweifler endlich glauben angesichts bestens besuchter Aufführungen und der Diskussionen danach. Das ziemlich übersichtliche Programm mit immerhin fünf Uraufführungen, das Nina Hümpel auch heuer wieder zusammengestellt hat, stieß freilich nicht in allem auf einhellige Zustimmung. William Forsythe - ja klar. Sein "Quiet Evening of Dance" als Eröffnungscoup ist und bleibt der Fixstern dieser 16. Festivalausgabe, wenn es um den reinen Tanz, um den Tanz als Artefakt geht. Forsythe zählt zu den einflussreichsten Mentoren von Richard Siegal. Der betreibt seit 2017 sehr erfolgreich seine eigene freie Tanzkompanie, das Ballet of Difference (BoD), alimentiert im Verhältnis zehn zu eins von den Städten Köln und München.

Das BoD-Gastspiel war denn auch als Schlussknaller von Dance 2019 gedacht. Bei der Uraufführung im Dezember 2018 traf "Roughhouse" mit BoD-Tänzern und Mitgliedern des Schauspiels Köln anscheinend exakt den rheinischen Humorpegel. In München hingegen wurde Siegals textlastiger, völlig konfuser Ausflug in die politische Satire mit allenfalls höflichem Applaus bedacht. Die Me-too-Bewegung, die Inklusion Farbiger, Behinderter und sexueller Minderheiten, kurz die strikt zu beherzigenden aktuellen Gebote politischer Korrektheit, quergeschnitten mit gespielten TV-Horrornachrichten, klopft Siegal auf ihre kommunikative Untauglichkeit in einer Art Kinderzimmer-Burleske ab. Sein Vorbild: Forsythe' ebenso chaotische und damit krachend gescheiterte Sprechtheater-Exkurse mit der Fallhöhe von Bauklötzchen, insbesondere die Shakespeare-Paraphrase "You Made Me A Monster" (2005).

Menschliche und künstlerische Kommunikation, deren Scheitern und Gelingen hatte Nina Hümpel mit ihrem vierten Programm im Blick. Es sind die Frauen, welche die stärksten Stücke dazu liefern. Die österreichisch-französische Choreografin Gisèle Vienne zumal mit ihrer narkotischen Berghain-Studie "Crowd" im fahlen Licht einer ganzen Nacht: Helene-Hegemann-Figuren, angetrieben zu gewalttätigen wie auch zärtlichen Begegnungen im Bierdunst einer zugemüllten Großstadtwüstenei, zeitlupenhaft das unerbittliche Diktat pulsierender Technorhythmen unterlaufend. Ein berückendes Genre-Bild.

Ebenfalls die Neunzigerjahre prägen Marie Chouinards "Les 24 Préludes des Chopin / Henri Michaux: Mouvements". Ein bisschen Gothic-Punk und etwas Porn-Chic mit Netzstoff und durchblitzender Haut - die Kostüme von Chouinards Tanz-Zyklus verlieren ihren billigen Pop-Appeal allerdings schnell angesichts des kongenialen Zusammenspiels von Tanz, Musik und technischer Versiertheit. Chopins aufgewühlte Klavierminiaturen bekommen in dem 1999 in Wien uraufgeführten Stück ein gegenwärtiges Pendant, das bei "Dance" zusammen mit Chouinards Choreografie auf Henri Michaux' "Mouvements" gezeigt wird. Chouinard bewegt sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen poppiger Verkitschung und ernstem Drama. Dass das funktioniert, liegt insbesondere beim Chopin-Teil maßgeblich an der Präzision des Stücks. Rhythmische Strukturen, ja bisweilen einzelne Töne werden passgenau in Bewegung übersetzt - flatternd, zackig, sexy und gebrochen klassisch. Und auch die zehn muskelbepackten Tänzer agieren in scharfkantig-meisterlicher Genauigkeit mit und extrahieren aus den 24 Präludien zersplitterte Seelenzustände.

Drastisch ausgestellte Sexualität dominiert "Fúria" von Lia Rodrigues. Das Stück bebildert die schillernde Revolte des nackten, sexualisierten Körpers aus den Müllbergen brasilianischer Favelas gegen eine gewalttätig-repressive Oberschicht als Zwitter von Prozession und Karneval. Die Herrscher - einer macht es sich auf den wackeligen Hinterteilen zweier Untergebener bequem - in der steten Gefahr zu stürzen. "Fúria" war gewiss die politisch dringlichste Produktion von "Dance 2019". Und damit erhellender als die lokalen Beiträge aus dem satt leuchtenden München.

In einer bildungsbürgerlichen Fahrradtour, der "Dance History Tour", allerdings durfte man erleben, dass München wirklich schon einmal als Tanzstadt leuchtete und dabei hauptsächlich weiblich und ganz schön androgyn. Recherchiert und zusammengestellt haben das zwei Kundige, der Germanist und Kunstkenner Thomas Betz sowie die Tänzerin und Tanzforscherin Brygida Ochaim. Vom Künstler- zum Lenbachhaus zur Stuckvilla erklärten zwei Studierende charmant einem Dutzend tanzaffiner Radelnder die lebendige Tanzszene zur Zeit des Jugendstils. Nicht vergessen: München also tanzte. Und tanzt und tanzt.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2019
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