Festival:"Wir müssen nehmen, was wir kriegen können"

Brexit
Edinburgh-Festivals

Downing Street 10 liefert Textzeilen - es gibt sogar ein Musical "Now That's What I Call Brexit".

Der Brexit ist der Subtext des Festivals in Edinburgh, ob auf Comedy-Bühnen oder im Theater. Das sinkende Pfund belastet zudem die Planer.

Von Alexander Menden

Dass an diesem Nachmittag nur ein Dutzend Zuschauer zu ihrer Show gekommen ist, stört Njambi McGrath nicht. Die Energie, mit der die kenianische Stand-up-Comedienne beim Edinburgher Fringe Festival ihr Programm "Accidental Coconut" präsentiert, würde für eine Halle reichen. Stattdessen erzählt sie in einem kleinen Kellergewölbe in der Blair Street ihre Lebensgeschichte als Kind eines Paares, das von der britischen Kolonialmacht während des Mau-Mau-Aufstands interniert wurde, und zugleich die Geschichte ihres Heimatlandes. Das ist nicht nur oft sehr komisch, es ergeben sich auch erstaunliche Parallelen zur britischen Gegenwart: "Die Briten fragten uns: Was wollt ihr überhaupt? Wir antworteten: Wir wollen Unabhängigkeit, Kontrolle über unsere eigenen Grenzen und Gesetze. Da haben sie sich wohl ein paar Notizen gemacht." Tatsächlich klingt das verdächtig nach der Argumentation, mit der die Brexit-Befürworter 2016 das EU-Referendum gewannen.

Über den Brexit zu lachen, scheint die Alternative zu schierer Verzweiflung zu sein

Der Edinburgh Fringe, einst als Randveranstaltung des Internationalen Kulturfestivals in der schottischen Hauptstadt entstanden, hat dieses zumindest von seiner programmatischen Vielfalt her schon lange hinter sich gelassen. Jede noch so kleine Butze wird zum Aufführungsort aufgewertet. Auf den Straßen versuchen junge Menschen meist gut gelaunt, bisweilen auch schon ein bisschen verzweifelt, Passanten Flugblätter für ihre Fringe-Shows in die Hand zu drücken. Es ist nicht leicht, auf sich aufmerksam zu machen. In der Regel lautet das Schlagwort, das hilft, aus der Unzahl von Shows herauszustechen, natürlich: Sex. In diesem Jahr funktioniert auch ein anderes: Brexit. 2019 ist ja nicht irgendein Jahr, denn das Vereinigte Königreich steuert scheinbar unaufhaltsam auf einen ungeregelten Austritt aus der EU zu. Über diese Katastrophe mit Ansage zu lachen scheint für viele die gesündere Alternative zu schierer Verzweiflung - gerade in Schottland, das überwiegend für den Verbleib in der EU stimmte.

So können sich zum Beispiel die Macher des kleinen, offenkundig mit heißer Nadel gestrickten Musicals "Now That's What I Call Brexit" über hervorragende Ticketverkäufe freuen. Eine sechsköpfige Truppe namens "Blowfish Theatre" rast mit minimalem Produktionsaufwand und maximalem Albernheitsfaktor in einer Stunde durch die gesamte jüngere britische Geschichte, von David Camerons Entschluss, ein Referendum abzuhalten, bis zur Wahl Boris Johnsons zum Premierminister - eine Wahl durch "ungefähr 1000 alte Frauen aus Surrey mit lila gefärbtem Haar", wie Johnson selbst im Stück triumphierend anmerkt.

Gut weg kommt dabei, wie zu erwarten, niemand. Der derzeitige Vize-Premier Michael Gove ist eine intrigante Kröte. Theresa May - mit besonders kreischigem Elan von Blowfish-Gründer Kyle Williams gespielt - wird von Jacob Rees-Mogg im Sadomaso-Stil auf einen harten Brexitkurs getrimmt. Labour-Chef Jeremy Corbyn verspricht in einer Grime-Nummer als Lösung "Onkel Jeremys extrem schlaue Brexit-Mindfuck-Matrix", und Brexit-Minister David Davis mahnt: "Bloß nicht zu sehr mit der Realität aufhalten!"

Das Ganze mündet in einer Koalition zwischen Michael Gove und Scharfmacher Nigel Farage; Boris Johnson wird zum König gekrönt. Eine Prognose, die angesichts der derzeitigen politischen Lage immer weniger wie Satire erscheint. Jeder hat seinen eigenen Zugang zum Brexit-Komplex. Der Komiker Patrick Monahan etwa erzählt in seinem Programm "Started from the Bottom, now I'm here", dass er wegen der irakisch-iranischen Herkunft seiner Mutter nicht mehr in die USA einreisen dürfe. Er tröstet sich damit, dass der irische Pass, den er dank seines Vaters hat, ihm aber immerhin weiter Reisefreiheit in der EU garantiere, während die britischen Kollegen sich künftig am Flughafen in eine deutlich langsamere Schlange werden einreihen müssen. Und der seit 2002 in Großbritannien lebende deutsche Komiker Henning Wehn bemerkt in seinem Programm "Get on with it": "Der Brexit setzt Bismarcks Politik der Isolation Großbritanniens endlich in die Tat um."

Ob es wirklich so kommt, wird man bald sehen; jedenfalls haben die Edinburgher Festivals wegen des drohenden harten Brexits schon jetzt mit ernsthaften Problemen zu kämpfen. Erstmals haben zahlreiche Künstler im Programm des EIF auf einer Auszahlung ihrer Gage in Euro oder Dollar statt in Pfund bestanden. Nach dem Aufstieg Boris Johnsons zum Premierminister sackte die britische Währung auf ihren tiefsten Stand seit mehr als zwei Jahren. Laut EIF-Direktor Graham Linehan ist die Planung der künftigen Festivals durch die Brexit-Unsicherheit komplizierter geworden: "Ich bin sicher, dass das alles für Fabrikbetreiber noch viel schlimmer ist, aber unsere Planungsgespräche schreiten schon seit sehr Langem nicht mehr voran", so Linehan. Dem Fringe-Festival wiederum droht der Verlust eines Investments von 20 Millionen Pfund durch den amerikanischen Zirkusveranstalter "Spiegelworld". Die Produktionsfirma mit Sitz in Las Vegas zeigt in diesem Jahr die erste von fünf Produktionen, die bis 2024 in Edinburgh Premiere feiern sollten. Nun gibt es ernsthafte Überlegungen, die übrigen Shows nach Berlin oder Paris zu verlegen.

Wie beim Fringe spielt der Brexit auch im Programm des EIF eine Rolle, unter anderem in "Peter Gynt", der großen Koproduktion des Edinburgh International Festival mit dem Londoner National Theatre. Der Dramatiker David Hare hat eine Neufassung von Henrik Ibsens "Peer Gynt" besorgt und die Handlung nach Schottland verlegt. James McArdle liefert in der Titelrolle als "Geschäftsmann-Philosoph der Selbstverwirklichung" im Verlauf von dreieinhalb Stunden eine darstellerische Glanzleistung brillanter und dabei nie gänzlich unsympathischer Egomanie ab.

Der Dramatiker David Hare hat Henrik Ibsens "Peer Gynt" nach Schottland verlegt

Hare ist schon immer einer der politischsten englischen Gegenwartsdramatiker gewesen; bereits vor zwei Jahren schrieb er das Brexit-Kurzdrama "Time to leave". In "Peter Gynt" sind die Bezüge subtiler, aber dennoch deutlich lesbar. Als etwa in der Halle des Bergkönigs die schweinsnasigen Trolle sich beschweren, Gynt sei es nicht wert, in ihre Reihen aufgenommen zu werden, mahnt der Bergkönig selbst: "Wir müssen nehmen, was wir kriegen können - wir verhandeln hier nicht aus einer besonders starken Position heraus!" Ein Satz, wie er in 10 Downing Street im Verlauf der Austrittsverhandlungen mit der EU hinter verschlossenen Türen sicherlich mehr als einmal fiel. Bei der berühmten Szene, in der Gynt sich mit einer Zwiebel vergleicht, die "viele Schichten, aber keinen Kern hat", denkt man unwillkürlich an den Politikscharlatan Boris Johnson. Wie Gynt hat er seiner eigenen Ambition alles andere untergeordnet - das Wohlergehen seiner Mitbürger, die Zukunft seines Landes. Was beide unterscheidet, ist Gynts Erkenntnis der Leere seiner Traumwelt - auf einen solchen Geistesblitz dürfte man bei Johnson vergeblich hoffen.

Überhaupt schwindet die Hoffnung auf einen einigermaßen guten Ausgang der Brexit-Story rapide. Wahrscheinlich ist es die letzte Edinburgher Saison, in der die Festivals innerhalb der EU stattfinden. Aber trotz aller politischen Widrigkeiten werden sie natürlich auch im kommenden Jahr die Stadt wieder mit Menschenmassen füllen. So ist es schließlich eine Installation des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar, die diese Stimmung vielleicht am besten einfängt: Jaar hat an der Gebäudebrücke zwischen dem Scottish National Museum und dem Old College der Universität einen Neonschriftzug angebracht. Es ist ein Zitat aus Samuel Becketts Roman "L'Innommable": "Ich kann nicht weitermachen. Ich werde weitermachen."

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