Festival Theaterformen Hannover:Die Relevanz der Chicken Wings

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In "How To Turn To Stone" erzählt Manuela Infante vom Schicksal chilenischer Bergarbeiter. (Foto: Daniel Montecinos/Festival Theaterformen)

Drei Produktionen beim Festival "Theaterformen" wollen unbedingt politisch sein, das gelingt unterschiedlich gut.

Von Till Briegleb

Der Wille, politisch zu sein, ist bei dem Sommerfestival "Theaterformen" in Hannover allpräsent. Jede der angekündigten rund 80 Veranstaltungen bezieht sich auf einen Diskurs über Ungerechtigkeit. Und es sind speziell zwei Themen, die Anna Mülter, die ehemalige Leiterin der Tanztage Berlin, als neue Chefin des renommierten Festivals in ihrer Dringlichkeit verstärken möchte: marginalisierte Gruppen und Klimagerechtigkeit. Mit Konzept wird dazu alles vom Programm fern gehalten, was bleich, männlich, heterosexuell, mittelalt und etabliert ist. Dafür stehen jetzt Menschen mit Behinderungen, aus indigenen Kulturen, Nicht-Weiße, Queere, Kinder von Migranten oder "Alte" auf den Bühnen.

Nach der Eröffnungspremiere, bei der die argentinische Künstlerin Lola Arias eine Gruppe interessanter Seniorinnen und Senioren für das Stück "Revolte - Ich bin nicht tot" zum Erzählen brachte, wobei auch hier exemplarisch darauf geachtet wurde, dass das Ensemble genügend marginalisierte Perspektiven mitbringt, verbreiterte sich das Festival am Wochenende mit drei Premieren in der Thematik. Julia Häusermann, Schauspielerin mit Down-Syndrom, entwickelte mit der Tänzerin Simone Aughterlony eine Performance zum Thema "Spielen", Simone Dede Ayivi kochte in "Homecooking" Rezepte von Bekannten, und die chilenische Regisseurin Manuela Infante erzählte in "How To Turn To Stone" vom Mars auf Erden.

Diese drei Inszenierungen zeigten sehr anschaulich die Bandbreite der Probleme und Lösungen einer Kunst, die politisch sein will. So ist "Homecooking" die ärgerlich platte Adaption eines TV-Kochstudios, wo in erschütternd unreflektierter Wiederholung Ausgrenzungsphrasen aufgetischt werden. Gerichte, die Arbeitsmigranten und -migrantinnen nach Deutschland gebracht haben, werden von deren Kindern und Enkeln in Video-Einspielern an Ayivi empfohlen, die diese dann kocht. Dabei wird jede befremdliche Situation, die als Kind mit anderem Essen auf dem Schulhof erlebt wurde, als Rassismus deklariert, in westlichen Zutaten Kolonialismus entdeckt, und komplett ignoriert, dass die Küchen der Welt in der Gesellschaft viel früher integriert waren, als die Menschen, und dass es irgendwie peinlich ist, wenn man gegen die Klimazerstörung durch den Kapitalismus spricht, und dann Schweinebauch und Chicken Wings feiert.

In "No Gambling" passiert in 90 Minuten sehr viel, aber wenig Schlüssiges. (Foto: Maxi Schmitz/Festival Theaterformen)

Die Produktion "No Gambling", die queere und behinderte Perspektiven im Bereich experimenteller Performance sichtbar machen möchte, krankt dagegen daran, dass Collage noch kein Inhalt ist. Unter einem riesigen Mobile, an dem Schallhörner, Federbüsche, ein Delfin und anderes Zeugs hingen, passierte 90 Minuten viel, nur wenig Schlüssiges. Aughterlony bewegte sich wie ein orientierungsloser Avatar aus einem Computerspiel über die Bühne, Nele Jahnke, verkleidet wie eine Adaption des Pop-Exzentrikers Leigh Bowery, schob unmotiviert Flightcases herum, und Häusermann spielte Prophetin mit dem Würfelbecher, um dem Publikum unheilbare Krankheiten vorherzusagen. Außer in ihrem kruden Witz fand sich in dieser flackernden, hämmernden und schusseligen Anhäufung von Popzitaten nichts, was wirklich unterhielt, geschweige denn ein durchdachtes dramaturgisches Konzept erahnen ließ.

Umso beeindruckender ist die Arbeit "How To Turn To Stone" der chilenischen Regisseurin Manuela Infante, die gerade für das deutsche Stadttheater entdeckt wird. Mit wenigen Textilien und drei Stoffzwillingen zu den Darstellerinnen und dem Darsteller (Aliocha de la Sotta, Marcela Salinas, Rodrigo Pérez) schuf sie zunächst eine suggestive Geschichte über Fossilienfunde auf dem Mars. In kleinen, überraschenden Schritten überführte sie das Rätsel dann in eine sehr konkrete Lebensgeschichte chilenischer Bergarbeiter. Wie hier aus einer wunderlichen Atmosphäre langsam die soziale Wirklichkeit des Ressourcenabbaus hervortrat, wo große Konzerne riesige Profite erwirtschaften, während ihre Arbeiter an Schwermetallvergiftung sterben und die Lebensgrundlage der Menschen sich in eine Marslandschaft verwandelt, das ist sehr intelligentes politisches Theater, das seine künstlerischen Mittel klug einsetzt.

Persönliche Kränkungen stehen am Theater zu oft im Fokus, dabei gibt es Dringlicheres

Hier ist endlich auch ein überzeugender Brückenschlag gelungen zwischen den Festivalthemen. Den Zusammenhang zu thematisieren von Umweltzerstörung und stark asymmetrischen Machtverhältnissen, die zur Unterdrückung von Menschen und ihren Grundrechten führen, gelingt in diesem Stück absolut eindrücklich. Diese Klarheit und Entschlossenheit wünscht man sich in Deutschland oft in den Diskussionen, wie die wartenden Umweltkatastrophen noch abzuwehren sind. Doch statt über Wirtschaftsordnung wird in der Kultur gerade lieber über Weltanschauung gesprochen.

Das große Missverständnis, das zunehmend unter dem Stichwort "Alles ist politisch" grassiert, hat auch die Theaterformen infiziert, wo das Maß für Dringlichkeiten verloren geht. Über persönliche Kränkungen wird viel zu viel, über strukturelle Interessenkonflikte viel zu wenig gesprochen. Im Gegensatz zu dieser egozentrischen Haltung, dass Identität wichtiger ist als Planet, sind kritische Verbindungen, wie Manuela Infante sie baut, so inspirierend. Und es besteht die Hoffnung, dass das Rahmenprogramm "Stadtlabor" ebenso die Aufgabe erfüllt, der Selbstmarginalisierung linker Debattenkultur unter der Ich-Prämisse etwas entgegenzusetzen.

Dutzende Initiativen aus Hannover hat Anna Mülter eingeladen, um auf der großen, für den Autoverkehr elf Tage gesperrten Raschplatzbrücke ihre Anliegen unter das Volk zu bringen. Das Themenmosaik dieser Debattenmesse reicht vom Kampf eines ecuadorianischen Stamms gegen einen chinesischen Ölförderer über die Frage der Tierschutzorganisation Peta, was Chicken Wings mit Klimawandel zu tun haben, zu digitalen Exkursionen in die sogenannten Brennpunkte Hannovers, wo erstaunlich glückliche Menschen wohnen. Vielleicht findet sich hier die Gesellschaft, die politisch wird, indem sie sich verständigt, und nicht spaltet, indem sie manisch nach Rassismus, Homophobie, Kolonialismus und Mikroaggressionen sucht.

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