Festival:Politisch jenseits von Tagespolitik

Womit beschäftigt sich die Freie Szene? Das Festival "Politik im Freien Theater" zeigt dies alle drei Jahre - nun unter dem Motto "reich" erstmals in München.

Interview von Egbert Tholl und Christiane Lutz

Seit 1988 veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung alle drei Jahre das Festival "Politik im Freien Theater". Nun kommt es mit seiner zehnten Ausgabe zum ersten Mal nach Bayern, nach München, mit einem zu dieser Stadt passenden Motto: "reich". In Kooperation mit den Münchner Kammerspielen und dem Spielmotor München e.V. als Vertreter der Freien Szene werden zwischen 1. und 11. November 14 von einer Jury ausgewählte Gastspiele gezeigt; dazu kommen zwei Einladungen der Kammerspiele selbst und ein reichhaltiges Rahmenprogramm mit Filmen, einer Ringvorlesung, Diskussionen und Jugendworkshops. Zwei der sieben Jury-Mitglieder erklären hier nun das Festival. Sophie Becker ist Künstlerische Leiterin von "Spielart", Christoph Gurk leitet als Kurator und Dramaturg die Programmbereiche Freies Theater und Musik der Münchner Kammerspiele.

Was ist Grundidee des Festival "Politik im Freien Theater"?

Sophie Becker: Die Grundidee ist tatsächlich die der politischen Bildung, was sich im griffigen Motto und auch in dem reichhaltigen Begleitprogramm in Zusammenarbeit mit allen möglichen Institutionen manifestiert, die sich der politischen Bildung widmen. Ebenso grundlegend ist der Anspruch des Festivals, extrem zugänglich zu sein. Während beispielsweise bei "Spielart" der Avantgarde-Anspruch eine große Rolle spielt, ist hier die Idee dahinter, auch Menschen zu erreichen, die ansonsten nicht ins Theater gehen.

Täuscht der Eindruck, dass die Ästhetik der ausgewählten Produktionen nicht primär im Vordergrund steht?

Becker: Jein. So weit können wir uns als Jury auch nicht verleugnen. Die Auswahl spiegelt natürlich unsere Debatten bezüglich unserer ästhetischer Vorlieben und den inhaltlichen Aspekten des Festival wider. Das Argument, dass man kaum neues Publikum ins Theater locken kann, wenn man es dann mit japanischen Produktionen mit englischen Übertiteln beglückt, ist schon plausibel. Dennoch: Wenn man sich die Formen anschaut, ist alles dabei, was man im Festivalbereich sonst auch sieht.

"Politik im Freien Theater" - der Titel ist allerdings nicht sehr niederschwellig.

Becker: Aber er beschreibt am besten, worum es geht.

Und wirft die Frage auf: Gibt es Politik nur im Freien Theater? Gibt es Freies Theater ohne Politik?

Becker: Natürlich gibt es Politik auch im Stadttheater und völlig politikfreie Performances in der freien Szene. Ein Gründungsgedanke für das Festival war, die freie Szene - was auch immer man darunter versteht - zu unterstützen zu einer Zeit, als die noch deutlich mehr gedarbt hat als heute, weniger Unterstützung erfuhr und beispielsweise auch nicht zum Theatertreffen eingeladen wurde.

Was ist denn eigentlich Freie Szene?

Christoph Gurk: Es gibt bekanntlich zwei Theatersysteme in Deutschland, nämlich einerseits das Ensemble- und Repertoiretheater und auf der anderen Seite die Freie Szene. Die agiert nach anderen Prinzipien und vom Stadttheatersystem weitgehend unabhängig: Eine Produktion kommt idealerweise durch die Kooperation mehrerer Produktionsstätten zustande und tourt dann durch diese Häuser. Inzwischen, das wissen wir ja alle, kommt es zwischen diesen beiden Systemen zu Vermischungen. So gehört es zu den wichtigsten Zielen der Intendanz von Matthias Lilienthal, die Kammerspiele für die in der Freien Szene entwickelten Produktionsweisen und Formsprachen zu öffnen.

Festival: Die mexikanisch-kolumbianische Produktion "Mare Nostrum" prangert Kapitalismus an.

Die mexikanisch-kolumbianische Produktion "Mare Nostrum" prangert Kapitalismus an.

(Foto: Gabriel Morales)

Becker: Wir haben für die Juryauswahl konkret zuerst die Produktionshäuser im deutschsprachigen Raum gesichtet, von der Gessnerallee in Zürich bis Kampnagel in Hamburg, und dann noch ein wenig das Ausland in den Blick genommen.

Und was haben Sie ausgewählt?

Gurk: Es gibt von der Bundeszentrale die Vorgabe, dass von den 14 oder 15 Produktionen, die zum Festival eingeladen werden, zehn aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Wir als Kammerspiele haben dann noch zwei Produktionen von Rimini Protokoll außerhalb der Juryauswahl ins Programm aufgenommen. Nur wenige Stücke sind nicht in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich entstanden, was auch damit zusammenhängt, dass wir dezidiert eine Abgrenzung zum "Spielart"-Festival wollten, das ja ein internationales Festival ist. Aus dem gleichen Grund konzentriert sich die von mir getroffene Auswahl im regulären Freie-Gruppen-Programm der Kammerspiele überwiegend auf den deutschsprachigen Raum.

Wie viele Produktionen hat die Jury denn angeschaut?

Becker: 253.

Gurk: Das hat ungefähr eineinhalb Jahre gedauert.

Weshalb nun diese 14?

Gurk: Das Festival steht unter dem Motto "reich". Mit dieser inhaltlichen Setzung haben sich die Kammerspiele bei der Bundeszentrale um die Ausrichtung des Festivals beworben, und sie hatte auch Einfluss darauf, welche Stücke wir überhaupt gesichtet haben. Die Juryauswahl soll etwas mit dieser Stadt und dem Wohlstandsgefälle hier zu tun haben. Die vorangegangenen Ausgaben des Festivals hatten immer ähnlich eingängige Titel. In Freiburg hieß das Festival "frei", davor in Dresden, genau so naheliegend, lautet das Motto "fremd".

Becker: Natürlich, München und "reich", das ist nicht die neueste Kopplung, aber es ging halt darum, etwas zu finden, was mit dieser Stadt ursächlich zu tun hat. Von "reich" ausgehend kommt man schnell zu Überlegungen über Privilegien. Wer hat Zugang zu was? Und zur Verknüpfung des Lokalen mit dem Globalen. Tatsächlich war es dann so: Arbeiten, die soziale Ungerechtigkeit zum Thema haben, gibt es gar nicht so viele - offenbar interessiert das gar nicht so im Theater.

Das heißt, bei der Sichtung der vielen Arbeiten hatten Sie diese Kriterien im Kopf?

Gurk: Ja genau. Wenn man über Reichtum nachdenkt, dann schwingt das Gegenteil natürlich immer mit. Es geht also um Asymmetrien bei der Verteilung von Macht und Geld, in München, in Deutschland, aber auch in globaler Perspektive. "Reich" war der Suchbegriff, mit dem wir Arbeiten aufgespürten, die dem Thema interessante, vielleicht ogar neue Aspekte abgewinnen.

In München denkt man natürlich beim Wort "reich" sofort ans Wohnen.

Becker: Da haben wir tatsächlich einen Abend von Rimini Protokoll über das Bauen. Und bei She She Pop mit "Oratorium" geht es auch darum, wer eine Wohnung oder ein Haus erbt und wer nicht.

Was schon einmal in München zu sehen war.

Becker: Tatsächlich waren drei der eingeladenen Arbeiten schon einmal in München zu sehen, neben "Oratorium" sind das "Mare Nostrum" und "Pink Money". Aber wenn man eine Produktion zu sozialer Ungerechtigkeit sucht, passt zum Beispiel She She Pop perfekt. Bei "Pink Money" ist es die Verknüpfung von Geld und Homosexualität, "Mare Nostrum" thematisiert die Verbindung von Fluchtursachen und sozialer Ungerechtigkeit.

Festival: Die Jurymitglieder Sophie Becker und Christoph Gurk.

Die Jurymitglieder Sophie Becker und Christoph Gurk.

(Foto: Gabriela Neeb)

Verhandelt die Freie Szene denn andere Themen als das Stadttheater?

Gurk: Ja, weil die Protagonisten andere sind. In der Freien Szene gibt es beispielsweise eine weitaus höhere Quote an weiblichen Regieteams und Regisseurinnen als am Stadttheater.

Warum ist das so?

Gurk: Frauen haben traditionell weniger Zutritt zum Stadttheatersystem als Männer. So entsteht eine Art personeller Rückstau, der sich im freien Theater wiederfindet. Es ist kein Zufall, dass die Schwarzkopie von "Mittelreich", mit der die Kammerspiele in diesem Jahr zum Theatertreffen eingeladen waren, von Anta Helena Recke entwickelt und inszeniert wurde, einer schwarzen Regisseurin aus München, die ihre Arbeiten bis dahin in der Freien Szene entwickelt hat.

Findet man in den Freien Szenen der Nachbarländer, etwa Holland und Belgien, mehr politische Produktionen als hier?

Becker: Ich finde, dass es in Deutschland eine Tendenz des politischen Theaters gibt, die sehr nah an der Lecture ist. Es wird oft mit großem Anspruch und einer Humorfreiheit an Themen rangegangen. Polemisch gesagt: Ich finde es schwierig, mir zwei Stunden lang von drei Performern erklären zu lassen, dass der Kapitalismus schlecht ist - eine Überzeugung, die vermutlich ohnehin die meisten im Publikum teilen. Dagegen fand ich die Arbeiten aus dem Ausland oft spielerischer, sinnlicher und vielfältiger.

Gurk: Das liegt aber auch daran, dass es in diesen Ländern ein Stadttheatersystem, wie wir es haben, gar nicht gibt. Aus diesem Grund fließen dort viel mehr Geld, Infrastruktur, künstlerisches Personal und kreative Energie in Freie Produktionen.

Welche Trends sind Ihnen auf Ihren Reisen noch aufgefallen?

Becker: Gerade ist eine Generation am Start, die um die 30-Jährigen, die eher fragend unterwegs sind, weniger "Ich erkläre euch mal die Welt", sondern mehr Kommunikation mit dem Publikum. In meiner Generation gab es oft so ein Besserwissertum. Die Jüngeren haben eine gute Art, sich selbst und ihre Verunsicherung wieder zum Thema zu machen. Es geht viel um Schwächen, Verwundbarkeit.

Vor vielen Jahren war politisches Theater agitatorisch. Es wollte eine konkrete Veränderung. Hat sich das also verändert?

Becker: Agitation setzt ja klare Feindbilder voraus. Die sind ja schon eine ganze Weile abhanden gekommen. Es gibt aber genügend, wogegen man sein kann. Ich zitiere da immer Michiel Vandevelde aus unserer Eröffnungspremiere "Paradise Now": "Wir mussten nie für etwas kämpfen, aber es gibt sehr viel, für das es sich zu kämpfen lohnt." Man kann extrem aktiv für einzelne Themen einstehen und gegen andere Sachen sein. Nur resultiert daraus nicht mehr zwingend eine große Utopie oder ein großer Systemwechsel.

So schnell wie sich die politische Realität verändert - hinkt da das Theater nicht hinterher?

Gurk: Das liegt an der strukturellen Trägheit des Betriebs. Bis eine Stadttheaterproduktion ein Thema aufnehmen kann, dauert das ein, zwei Jahre. Viel kürzer sind die Vorläufe bei Produktionen aus der Freien Szene, mit ihren langwierigen Bewerbungsverfahren um Fördermittel leider auch nicht. Wir haben gezielt nach Arbeiten gesucht, die thematisieren, was mit einer Gesellschaft passiert, in der die AfD so mächtig geworden ist. Diese Produktionen gibt es einfach noch nicht.

Wie gehen Sie damit um, dass ganz aktuelle politische Themen beim Festival nicht vorkommen werden?

Becker: Momentan hast du permanent das Gefühl, viele Politiker reden erst und denken dann nach. Das Theater kann der Ort sein, der sich die Zeit nimmt und erst nachdenkt. Da steht ein Theaterbegriff dahinter, der über die Tagespolitik hinaus geht. Das finde ich gut.

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