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Festivals:"Als ich angefangen habe, gab es viel weniger Klauseln"

Wie gelingt ein gutes Festival-Line-up? Annika Hintz, Bookerin des MS Dockville, spricht über Trends, Schnelllebigkeit und die diesjährige Headlinerin Billie Eilish.

Von Theresa Hein

Die Bookerin Annika Hintz, 27, ist seit elf Jahren dafür verantwortlich, welche Bands Mitte August beim Hamburger Indiepop-Festival MS Dockville auftreten. Es gilt als eines der am besten und informiertesten kuratierten Pop-Festivals des Landes. Zu Konzerten von 130 Popkünstlern kommen inzwischen rund 60 000 Besucher. Das in diesem Jahr mit der Sängerin Billie Eilish auch der meistgefeierte junge Popstar des Jahres in Hamburg auftreten wird, ist ein Coup. Der Boom des Festivalgeschäfts und die Geschwindigkeit, mit der sich inzwischen die Pop-Trends abwechseln, machen die Arbeit von Hintz immer auch zu einer Art Glücksspiel.

SZ: Frau Hintz, was war als Festival-Bookerin bislang Ihr schwärzester Moment?

Annika Hintz: Vollkommen daneben lag ich noch nie, aber einmal gab es eine blöde Situation 2015 mit dem DJ Ten Walls: Er hatte sich auf Social Media schwulenfeindlich geäußert, nachdem wir ihn gebucht hatten. Wir konnten ihn allerdings noch ausladen.

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Sie sind beim Dockville seit 2007 dabei. Wie hat sich Ihre Arbeit seither verändert?

Vor allem hat sich das ganze Business, man muss es wirklich so nennen: "Business", extrem professionalisiert. Die Strukturen sind heute sehr festgefahren, die Absprachen mit den Managements sehr viel detaillierter geworden. Zum Beispiel ist gerade ein Problem, dass sich die Künstler regelmäßig darum streiten, an welcher Stelle sie auf dem Festival-Plakat zu sehen sind. Da kann die Ankündigung von Künstlern dann schon mal zu einer sehr nervenaufreibenden Sache werden. Als ich angefangen habe, gab es viel weniger Klauseln. Heute haben fast alle Festivals Künstler aus unterschiedlichen Genres. Dadurch wird die Konkurrenz der Festivals untereinander natürlich viel größer.

Die Popmusik-Welt ist ziemlich unübersichtlich geworden. Wie behalten sie den Überblick?

Manchmal hat man schon das Gefühl, abzusaufen. Es wird mehr Musik denn je produziert, auch die einzelnen Künstler veröffentlichen mehr Songs und die Tatsache, dass heute eigentlich nur noch Songs und nicht mehr ganze Alben im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, macht es einem auch nicht gerade leichter.

Wie gehen Sie also vor?

Verkaufszahlen oder Streaming-Statistiken sind natürlich hilfreiche Indikatoren. Aber wenn man die, was häufig der Fall ist, erst einmal nicht hat, muss man sich auf sein Gespür und seine Erfahrung verlassen. Als Festivalbooker sitzt man oft vor der Musik und hört sich sagen: "An den Act, an den glaube ich einfach." Echte Geheimrezepte gibt es leider keine.

Das einhellig gefeierte Pop-Wunderkind Billie Eilish ist dieses Jahr Dockville-Headlinerin. War das ein Glückstreffer?

Eher nicht. Als wir sie im vergangenen Oktober gebucht haben, war sie schon sehr bekannt. Komischerweise lief sie aber trotz gigantischer Streaming-Zahlen unter dem Radar der breiteren Öffentlichkeit. Sogar bei uns im Team gab es nur wenige, die sie kannten. Dockville-Chef Enno Arndt und ich waren uns mit der Entscheidung aber relativ sicher. Als dann im März ihr Album so durch die Decke ging, haben wir uns natürlich gefreut. Bei der Schnelllebigkeit der Szene heutzutage hätte es auch passieren können, dass sie jemand überholt. Mit dem Risiko muss man als Festivalmacher leben.

Wie machen Sie sich auf die Suche nach Trends?

Die Medien, die einem Musik früher vorsortiert haben, existieren heute nicht mehr. Zumindest funktionieren sie nicht mehr so wie früher. Schon als ich angefangen habe, haben Musikmagazine für mich kaum noch eine Rolle gespielt. Wichtig waren Musikblogs, die dann ihrerseits an Bedeutung verloren, als die Leute begannen, primär Musikstreamingdienste wie Spotify zu nutzen, um Musik zu entdecken. Jetzt geben Algorithmen die Empfehlungen. Man kann aber natürlich immer noch Musik entdecken, wenn man im Radio gute Sender hört, ich kann Freunde fragen, was sie gerade so hören, ich kann auf Soundcloud.com herumstöbern oder die Blogs durchlesen, die es noch gibt. Aber was auch immer ich mache, am Ende muss ich für mich schlicht das Gefühl haben, das dieser oder jener Künstler groß wird.

Wenn das Festival vorbei ist, beginnen Sie direkt mit der Planung fürs kommende Jahr und sitzen vor einem leeren Blatt. Erschreckt Sie das?

Absolut, es ist wirklich jedes Mal ein bisschen so, als würde man sein Haus wieder ganz neu aufbauen müssen. Das Risiko ist immer groß. Andererseits wächst ein Festival-Programm auch über Jahre. Wenn etwa ein Künstler, den wir schätzen, in einem Jahr nicht kann, rutscht er bei uns in die Piroritätenliste für das folgende Jahr. Und wir freuen uns auch immer, wenn wir Bands bei ihrem Erfolg begleiten können. Bilderbuch haben bei uns zum Beispiel das erste Mal 2012 gespielt, als sie noch ziemlich unbekannt waren. 2016 spielten sie dann auf der zweiten Bühne das wichtigste Konzert, und jetzt sind sie Headliner auf der großen Bühne.

Beim Primavera Sound Festival in Barcelona treten in diesem Jahr genauso viele weibliche wie männliche Künstler auf. Wäre so etwas auch für das Dockville 2020 denkbar?

Ja, nur gegen eine strenge Quote würde ich mich sperren. Und zwar nicht, weil ich Frauen nicht gleichberechtigen möchte, sondern einfach wegen der Marktlage. Es ist schwer, genauso viele Frauen wie Männer zu verpflichten.

Was meinen Sie mit "Marktlage" - dass es mehr männliche als weibliche Musiker gibt?

Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmt. Das heißt aber nicht, dass es unmöglich ist, etwas zu ändern. Dieses Jahr haben wir beim Dockville einen Frauenanteil von etwas über 30 Prozent. Und man muss sagen: Besonders in der elektronischen Musik sind die Frauen ganz stark auf dem Vormarsch. Amelie Lens, Charlotte de Witte, Peggy Gou und viele andere. Genau das wünsche ich mir in anderen Genres auch.

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