Süddeutsche Zeitung

Festival:Glieder in Maßen

Körper im Stillstand, im Straucheln und in der Selbstliebe: das Finale der Tanzwerkstatt Europa

Von Sabine Leucht

Charlie Morrissey ist allein auf der Bühne des Schwere Reiter. Und doch nicht. Da sind die Bälle, die er aus einem orangenen Eimer kippt und zwischen denen er seine rudernden Glieder so behutsam platziert, als seien es Lebewesen. Und da sind seine Behauptungen: Hinter vier roten Türen würden ikonische Städte brodeln. Und Kate, Jenny oder "Nina, the sprinter" würden mit 18 Kindern die Bühne stürmen. Während Morrissey davon erzählt, liegt er flach auf dem Boden. Und das Publikum fängt allmählich an, seinen Beschreibungen die Imagination nachzuschicken und sich damit einzugrooven auf etwas, was Tanz und Performance immer einfordern. Doch der britische Tänzer und Choreograf wandert in "What's Not There" derart beiläufig durch den Möglichkeitsraum, der mit seinen Erinnerungen möbliert ist an gebrochene Nasen und verpasste Momente, dass sich fast unmerklich die Kühnheit der Anmaßung und das Gewicht der Melancholie miteinander verweben. Damit triggert er an diesem klugen und witzigen Abend auch die Erinnerungsmaschinerie seiner Zuschauer, von denen etliche seinen Workshop besucht haben. Denn Zuschauen und Selbermachen gehören bei der Münchner Tanzwerkstatt Europa seit jeher zusammen.

Wie das Selbstbewusstsein und wohl auch die Qualität der Workshop-Teilnehmer über die Jahre gewachsen sind, zeigt die traditionelle "Open Stage". Auf der präsentierten früher laut Festivalleiter Walter Heun die fünf Gruppen oder Personen, die gerade Lust hatten, eigene choreografische Arbeitsstände. Heute sind es immer noch fünf, allerdings ausgewählt aus mehr als 50 Aspiranten. Der Newcomer-Abend ist ein erfrischender Mix aus abstrakt-konzeptionellen und sehr plastischen Kürzestszenen, die sich verschiedenster Tanzsprachen bedienen. So empfiehlt sich das von Martial Arts und Breakdance eingefärbte Männer-Affen-Medley des Münchner Kollektivs Stammbaum unbedingt für Jugend-Tanz-Festivals wie "Think Big!", während Inés Belli aus Norwegen gewitzt Jazz- mit Postmodern-Dance paart und drei Frauen-Soli dezidiert eigene Wege gehen.

Mit ihrem Eigensinn befinden sich die Youngster in guter Gesellschaft. Denn auch im offiziellen Performance-Programm sind Künstlerinnen (das Verhältnis von Choreografinnen zu Choreografen ist fünf zu drei) in der Mehrheit, die eine Grundidee ausreizen, notfalls bis zum Exzess. Bei der Lokalmatadorin Anna Konjetzky beginnt das vielversprechend. In "The Very Moment" untersucht sie vor einer Folie von Youtube-Videos strauchelnder und stürzender Menschen den Moment des Instabilen - mit der wunderbaren Quin Orton als Monument tänzerischer Selbstbeherrschung, das letztlich nur durch skurrile Selbstzweifel ins Wanken gerät. Nach etwa zwanzig Minuten aber läuft der Abend leer. Ähnlich beim Wiener Kollektiv Liquid Loft, dessen dritter Teil der Auseinandersetzung mit Andy Warhols frühen filmischen Arbeiten die Klischees des Weiblichen immer wieder neu inthronisiert und dekonstruiert. In "Candy's Camouflage" machen drei Performerinnen Schmollmünder und Kinderaugen, verzerren die Lippen zum Schrei, ziehen BHs und andere Kleidungsstücke an und wieder aus, zeigen Beine, Zähne und schimmernde Haut, bis man zwischen der Kritik daran und der selbstgefälligen Pose nicht mehr unterscheiden kann. Und so raffiniert die Schwarzweiß-Bilder sind, die sie dabei von sich selbst entwerfen und auf die Rückwand der Muffathalle werfen: Sie und das dauernde Hantieren mit Kameras und Scheinwerfern lassen die Körper auf der Bühne zur Nebensache werden.

Beim Stockholmer Choreografen Jefta van Dinther sind sie dann da: Zwei Körper, nackt, männlich. "Dark Field Analysis" ist eine Meditation über den Menschen zwischen animalischer Natur und Maschine, Anbeginn und Science Fiction. Sie beginnt mit Sitzen, Fragen und Antworten, die so stockend und langsam kommen, als müssten Juan Pablo Cámara und Roger Sala Reyner erst sprechen lernen: "What - are - you - thinking?" Über die verbale Beschreibung körperlicher Sensationen und die staunende Betrachtung einzelner Gliedmaßen gerät die Szene in Bewegung.

Insektenhaftes Übereinanderkrabbeln im Stop-Rewind-Modus, das linkische Ausprobieren des aufrechten Gangs: Man wohnt der Genese der eigenen Spezies bei und einer individuellen, zunehmend soghaft werdender Erfahrung. Der ganze Raum pulsiert schließlich von Licht, Dunkelheit, Bewegung. Songs wie "The Slow Drug" von PJ Harvey scheinen diesem Geflecht geradewegs zu entspringen. Damit schlägt das Festivalende einen schönen Bogen zum Beginn und den sich unablässig drehenden und dabei hypnotische Musik produzierenden Körpern von Miet Warlop herself, Pieter De Meester und Wietse Tanghe. Schweden grüßt Belgien; und die Welt ist rund.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4559964
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.08.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.