Festival:Elfengrund und Höllenfahrt

Frühe Klaviermoderne beim Kissinger Sommer

Von Stephan Schwarz-Peters, Bad Kissingen

Draußen spielt die Kurkapelle Walzer, drinnen sorgt die musikalische Moderne für einen Feueralarm. Vielleicht zwei, drei Minuten hätte Nikolay Khozyainov noch gebraucht, um den letzten Satz von Prokofjews siebter Klaviersonate und damit das gesamte Konzert zu beenden. Zwei, drei Minuten und ein unbedachter Druck aufs rote Knöpfchen, die den jungen Pianisten um seinen Schlussapplaus bringen. Dabei hätte er sich den im Einsatz für die Klaviermusik des frühen 20. Jahrhunderts wohlverdient: Emblematisches von Strawinsky, Antheil, Busoni, Schönberg und Gershwin, verbunden durch musikhistorische Schlüsseltexte aus einer Zeit, in der Komponisten noch für die schönsten Skandale sorgten.

Wo waren wir gerade, bevor uns die Alarmsirene so unsanft hinausbefördert hat? Richtig, beim Auftakt der Konzertreihe "Schwarzweiß". Zu diesem Minifestival beim Kissinger Sommer treten prominente Klavierduos und Solopianisten an, um die revolutionäre Kraft ehemals avantgardistischer Klaviermusik in fünf Konzerten neu zu entfesseln. Dabei macht zunächst das Duo D'Accord seinem Namen alle Ehre. Seine Interpretation von Rachmaninows Suite Nr. 1 demonstriert den Idealfall musikalischer Verbundenheit. Von einem niemals aussetzenden Gemeinschaftspuls getragen ist auch der zweite Teil des Konzerts, der von Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (mit Johannes Fischer und Domenico Melchiorre) bis zum Untergangstaumel von Ravels "La Valse" eine immer steilere Spannungskurve beschreibt. Beim Schlussakkord ist der Energieausstoß so groß, dass es Lucia Huang förmlich hochschleudert. Praktisch, im Stehen kann sie gleich den krachenden Beifall entgegennehmen. Ihr Klavier- und Lebenspartner Sebastian Euler muss sich dazu erst erheben.

"En blanc et noir" - das Motto des Kissinger Sommertages versinnbildlicht in Debussys gleichnamigem Klavierzyklus: Mit ihm melden sich Herbert Schuch und seine Frau Gülru Ensari zu Beginn des nächsten Konzerts zu Wort. Vielleicht sind beide an diesem Tag zu gut gelaunt, um das lauernde Grauen dieser zu Kriegszeiten entstandenen Komposition ganz in sich aufzunehmen. Ihre faszinierend unbeschwerte Darstellung von Schuberts vierhändiger C-Dur-Sonate im Anschluss legt den Verdacht nahe. Mit leichten Füßen wandernd, lassen die zwei das Klischee vom unglücklichen Pummelfranz links liegen, gehen stattdessen wilde Himbeeren sammeln und erfreuen sich am Murmeln eines Waldesbachs. So tankt man Kraft für das abschließende Pandämonium, Strawinskys "Sacre". Was man hört: stampfende Streicher, kreischende Holzbläser, gestopfte Hörner und gedämpfte Trompeten. Der Effekt könnte nicht größer sein, wenn statt eines vierhändig gespielten Klaviers ein voll besetztes Orchester auf der Bühne säße.

Wie Herbert Schuch ist auch Igor Levit dem Festival seit seiner Teilnahme beim Kissinger Klavierolymp verbunden. Regelmäßig ist der Pianist seit 2004 im unterfränkischen Kurort aufgetreten, dieses Jahr zum ersten Mal unter der Intendanz von Tilman Schlömp. Nun wird es richtig voll im Rossini-Saal, zwei "Lebenswerke" hat Levit im Sperrgepäck: Beethovens "Diabelli-" und Rzewskis "The Peolple United"-Variationen. Ob auf CD oder in den unzähligen Konzerten, die er mit diesem Repertoire bestritten hat, ist Levits Auseinandersetzung mit beiden Werken für sein Publikum stets so spannend wie ein Ringkampf. Nicht mit Applaus, sondern mit Jubel wird diese Heldentat belohnt. Ein später Ausklang holt die musikalisch aufgepeitschte Festivalgemeinde wieder herunter. Im Schmuckhof der Kissinger Kuranlagen knipst die fabelhafte, höchst innig und kultiviert spielende Claire Huangci den shakespearschen Sommernachtszauber an und führt Werke von Beethoven, Skrjabin und Chopin über Elfengrund spazieren.

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