Festival:Elektrisierend, faszinierend

Louise Lecavalier eröffnet die Tanzwerkstatt Europa

Von Eva-Elisabeth Fischer

Eröffnung der Vorstellungsreihe zur Tanzwerkstatt Europa: Der leicht melancholische Schluss überrascht denn doch nach diesem gut einstündigen Cyborg-Marathon. Da sitzen Louise Lecavalier und ihr Tanzpartner Robert Abubo einander zugeneigt wie Philemon und Baucis in einträchtiger, auch sichtbar erschöpfter Vertrautheit. Zuvor hatte Lecalvalier Abubo huckepack nach einer vergleichsweise moderaten Schlussrunde aus der Arena geschleppt, dem "Battleground", wo sie sich zunächst solo echauffiert hat und dann im Duett Runde um Runde abgearbeitet haben in geometrischen Figuren in den absonderlichsten, sich wiederholenden Körperverbiegungen.

Lecavalier also schleppt den Mann, wie sie schon immer Männer getragen und durch die Luft katapultiert hat in ihrem mehr als 40-jährigen Tänzerinnenleben. Zu Weltruhm gelangte das muskelbepackte Tanzgeschoss mit Bustier und aufgemaltem Schnurrbart bei Edouard Lock als Frontfrau der Gruppe "LaLaLa Human Steps" mit dem Stück "Human Sex". 18 Jahre, bis 1999, blieb sie bei dem exzentrischen Choreografen und begründete mit ihm die Tanzrevolution der frühen Achtzigerjahre in Kanada als beinharte Schwester von Rock und Pop, die in horizontal gedrehten Pirouetten über die Bühne rotierte. Ihr androgynes Alter Ego fand sie in David Bowie, wobei die Geschlechterunterschiede und -grenzen endgültig aufgelöst zu sein schienen. Und dann tauchte Louise Lecavalier vor zwölf Jahren mit ihrer eigenen Kompanie auf, was einen allerdings nicht sonderlich vom Sessel riss.

Jetzt schon. Wenn sie nun in langer schwarzer Lederhose und schwarzseidener Kapuzenjacke bei schweißtreibenden Temperaturen in der Muffathalle vor einer Sperrholzwand wie die Animation eines ferngesteuerten Keith-Haring-Figürchens auf halber Spitze trippelnd und dabei flügelschlagend das Tanzrechteck in alle Richtungen durchmisst, dann ist man vom ersten Moment an elektrisiert, fasziniert. Und bleibt es. Sie zittert, sie krampft, sie rotiert. Sie fährt das Bein aus wie ein gewinkeltes Tentakel. Sie ballt die Fäuste. Sie läuft die wechselnd beleuchteten Außenbahnen ihre Vierecks entlang und kommt doch nirgends an, stetig vorwärts getrieben von den Elektrobeats, mit denen Antoine Berthiaume seine E-Gitarren-Soli zu einem narkotisierenden Rhythmus-Halluzinogen mixt. Zwischen den Runden ihres Tanzkampfes setzt Lecavalier keuchend Pausen und die Wasserflasche an den Mund.

Italo Calvinos Novelle "Il cavaliere inesistente" (Der nichtexistierende Kämpfer) macht einen Kampf sichtbar, der sonst weitgehend unsichtbar bleibt. Es ist der Kampf um die eigene Existenz. Lecavalier ficht ihn aus, boxt ihn durch mit dem eigenen Körper, angetrieben von ihrer geradezu beängstigenden Energie. Wenn Robert Abubo ihr die Kapuze herunterzieht, kommt wie je ein blonder Schopf zum Vorschein. Aber die Kämpfe eines fast 60-jährigen Lebens haben Spuren in Louise Lecavaliers Gesicht gegraben. Verneigung auch davor.

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