Fernsehquote und Ausländer:Sender lassen die Türken links liegen

Fast viereinhalb Millionen Ausländer in Deutschland werden von der TV-Forschung ignoriert. Wem das nützt - und wem es schadet.

Reiner Scholz

Sieben Özdags machen sich auf den Weg in die Türkei. Vater Hasan hat treusorgend 120 Börek gebacken, die in dem vollgepackten Kleinbus nur noch schwer zu verstauen sind. "Als ob es auf dem Weg über Italien und Griechenland nichts zu essen gibt", stöhnt seine Tochter Hülya. Ihr lebenslustiger Bruder Nebil nervt die Fahrgemeinschaft derweil mit dem Absingen von deutschen Schlagern wie "Theo, wir fahr'n nach Lodz".

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Das ist die Familie Özdag aus Köln-Mülheim, Mittelpunkt einer Doku-Soap des WDR. Der Sender engagiert sich besonders für Migrantenthemen. Wie das bei den in Derutschland lebenden Türken ankommt, ist unklar: Ihre Daten werden von der Fernsehforschung nicht erfasst.

(Foto: Foto: WDR)

Die liebenswert-chaotische türkische Großfamilie aus Köln-Mülheim ist derzeit in der Dokusoap "Die Özdags" des WDR zu sehen. Das passt auch: Der WDR ist neben dem ZDF derjenige öffentlich-rechtliche Sender, der sich rund um Migration und Integration am stärksten engagiert.

Doch wen solche Sendungen eigentlich erreichen, darüber lässt sich nur spekulieren. Denn die Fernsehforschung ermittelt zwar sekundengenau, wie viele Zuschauer was sehen. Doch gemessen wird das in 35.000 Haushalten, deren Hauptverdiener allesamt einen deutschen oder mindestens einen EU-Pass haben. Andere Ausländer, Türken, Kroaten, Serben, Chinesen, Afghanen, Russen etwa, werden als Fernsehzuschauer nicht erfasst.

Es geht um 4,4 Millionen Menschen, von denen viele schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben und deren gesellschaftliche Einbeziehung der öffentlich-rechtliche Rundfunk inzwischen als besonderen Teil seines Auftrags begreift.

Sehr auffällig war das Problem beim Halbfinale der Fußball-EM zwischen Deutschland und der Türkei. Da meldete das ZDF stolz, das Spiel sei von 29,54 Millionen TV-Zuschauern gesehen worden. Doch diese Angabe, so genau sie mit den zwei Stellen hinter dem Komma daherzukommen schien, konnte gar nicht stimmen. Sie vernachlässigte nicht nur die zahlreichen Public-Viewings auf großen Plätzen, sie überging auch alle in Deutschland lebenden Nicht-EU-Ausländer, darunter 1,7 Millionen Türken ohne deutschen Pass. Dass von ihnen keiner das Spiel gesehen haben soll, ist schwer vorstellbar.

Beschränkungen

Herr dieser Zahlen ist Michael Darkow, Leiter der Fernsehforschung bei der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg. "Wir sind uns der Beschränkungen voll bewusst", sagt der Mann, den viele für den kundigsten Fernsehforscher in Deutschland halten.

"Es gibt noch andere Zuschauer, die wir nicht berücksichtigen, Hotelgäste zum Beispiel, Bewohner von Alten- und Studentenwohnheimen". Schuld seien statistische Gründe: "Unsere methodischen Auflagen sind sehr hoch". Nur für die Haushalte von Deutschen und EU-Ausländern verfüge man jedoch durch den Mikrozensus und die Wählerverzeichnisse über gut aufgearbeitete, verlässliche demographische Daten. Tageszeitungen zum Beispiel, sagt Darkow, würden bislang überhaupt keine ausländischen Nutzer messen.

Seref Erkayhan, der stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschlands und ihr medienpolitischer Sprecher, kann nicht verstehen, warum sich die deutsche Gesellschaft so wenig für die Sehgewohnheiten beispielsweise der Türken interessiert: "Wir wissen doch aus Untersuchungen von ARD und ZDF, dass viele Türken mittlerweile sehr wohl deutsche Medien konsumieren".

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wer entscheidet, was gemessen wird.

Sender lassen die Türken links liegen

Der 38-Jährige sieht mit seiner Frau am liebsten Arte und schätzt die preisgekrönte ARD-Vorabendserie "Türkisch für Anfänger" weniger als "Al Bundy". Er hat erst kürzlich in der Medienarbeitsgruppe der Berliner Islam-Konferenz wieder die Forderung eingebracht, alle in Deutschland lebenden Menschen in die Fernsehforschung einzubeziehen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk werde doch auch mit den Gebühren türkischer Haushalte finanziert, argumentierte er, und zwar mit mehr als 100 Millionen Euro im Jahr. "Immer heißt es, das wird zu teuer"., sagt Erkayhan. "Aber: Wenn die Integration nicht gelingt, wird das auch teuer."

Kein Thema

Die Fernsehanstalten, die in der "Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung" (AgF) zusammen geschlossen sind, lassen sich die tägliche Fernseh-Auswertung 20 Millionen Euro im Jahr kosten. Finanziert wird die Datenerhebung von den öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Sendern. Da gibt es Standardtabellen und Kreuztabellen, Schemaplatzgrafiken, Zeitschienen, Cross-Module und Verlaufsgrafiken - die Statistiker der GfK bleiben den Auftraggebern in den Funkhäusern und Werbeagenturen wenig schuldig.

Wer sitzt wie lange vor dem Bildschirm, Männer oder Frauen, jung oder alt, wann wird zugeschaltet, wann abgedreht, das sind so die Fragen. Um sie beantworten zu können, liefern Messgeräte in 5640 repräsentativ ausgewählten Haushalten (140 davon ohne deutsche Staatsangehörigkeit, aber mit EU-Pass) regelmäßig Daten.

Die Zahlen werden aus dem gesamten Sendegebiet nachts automatisch zur GfK nach Nürnberg übermittelt, dort aufgeschlüsselt und liegen morgens auf den Schreibtischen der Sender und in den Werbeagenturen, die dann nicht nur wissen, wer ihre Spots gesehen hat sondern auch, was sie Wert waren: Pro 1000 Zuschauer kostete ein 30 Sekunden-Spot im vergangenen Jahr 11,07 Euro.

Die Entscheidung, was wie gemessen wird, fällt die AgF, in der das öffentlich-rechtliche und das kommerzielle Fernsehen sowie die Werbewirtschaft vertreten sind. "Unsere Stärke ist, dass unsere Daten von niemandem bestritten werden", sagt Karin Hollerbach-Zenz, Sprecherin der technischen Kommission der AgF. Die Einbeziehung von Nicht-EU-Ausländern sei methodisch schwierig, sehr teuer und derzeit deshalb kein Thema.

Kein Wort

Vor einigen Jahren habe man den Versuch gemacht, ausländische Haushalte einzubeziehen. Die Anwerbung der Test-Familien, die ja nach dem Zufallsprinzip laufe, sei aber sehr kompliziert gewesen: "Stellen Sie sich vor, Sie klingeln an einer Wohnungstür, es macht jemand auf und Sie verstehen kein Wort."

Die Sprachprobleme wären zu lösen, da ist sich Miguel Vicente sicher, einer der Geschäftsführer des Bundesausländerbeirats. Repräsentative Untersuchungen in nichtdeutschen Milieus seien heute Standard: "Wir haben schon Türken vermittelt, Chinesen, Serben, alles". Ozan Sinan stimmt dem zu. Seine Werbeagentur Lab One Brand Experience mit Sitz in Berlin hat vor einigen Jahren zusammen mit einem Partner eine erste große Untersuchung über türkische Lebenswelten gemacht und unter jüngeren Türken eine Begeisterung für Marken- und Designermode, Cocktaillounges und Fondssparen entdeckt: "Abschied vom Alditürken" lautet das Schlagwort.

Allerdings sei es nicht ganz einfach, türkische Familien repräsentativ abzubilden: "Da sitzt ja, vom Vater, der Arbeiter ist, über die analphabetische Oma, bis zur Tochter, die vielleicht gerade das Jura-Examen macht, alles zusammen auf dem Sofa." Machbar wäre es freilich, das alles zu erfassen. Nur würde es zusätzliches Geld kosten. Stattdessen soll es in den bestehenden Test-Haushalten künftig möglich sein, die (auch zeitversetzte) Nutzung von DVD- und Festplattenrekordern zu messen, ebenso Fernsehnutzung über den PC und das Handy.

Wie teuer die Einbeziehung der Ausländer in die Fernsehforschung wäre, könne man nur spekulieren, sagt AgF-Sprecherin Karin Hollerbach-Zenz. Es müssten gut 350 repräsentative Familien mit ausländischem Haushaltsvorstand gefunden und betreut werden. Die Kosten, überschlägt die Expertin, dürften etwa anderthalb Mal so hoch liegen wie bei den derzeitigen deutschen und EU-Panelbesitzern. Insgesamt würde ein siebenstelliger Betrag zusammenkommen. Geld, das man offenbar nicht ausgeben will. Weil es sich nicht rechnet, wie manche sagen?

Keine Notwendigkeit

Die Werbewirtschaft jedenfalls braucht diese Zahlen eigentlich nicht. Im Gegenteil. Sie muss befürchten, dass Werbung teurer würde, wenn wirklich alle Zuschauer gemessen werden. Die unterhaltungsorientierten kommerziellen Sender dürften sich wohl über ein deutliches Zuschauer-Plus freuen, könnten aber damit verbundene höhere Preise auf dem angespannten Werbemarkt kaum durchsetzen.

Und die Öffentlich-Rechtlichen könnten womöglich jeden Tag belegt bekommen, was sie vielleicht schon wissen: Sie haben eine hohe Kompetenz in Sachen Seriosität, werden aber von den Ausländern noch zu selten angewählt.

"Letztlich ist es keine wirtschaftliche, sondern eine politische Entscheidung, ob man den schon lange hier lebenden Ausländern das Gefühl geben will, ein Teil der Gesellschaft zu sein", sagt Werbeagenturchef Ozan Sinan. Vereinzelt hört man das auch in den Funkhäusern. "Man kann nicht ernsthaft vertreten, dass die Gruppe der Ausländer auf Dauer in der Fernsehforschung nicht abgebildet wird", sagt WDR-Medienforscher Erk Simon. "Wir sehen die methodischen Probleme. Wir sehen aber auch eine politische Notwendigkeit, diese Zuschauergruppen ernst zu nehmen".

Dann könnte der WDR sogar erfahren, wie viele Türken denn "Die Özdags" gesehen haben.

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