Fernsehen:Plädoyer fürs Glotzen

Es gibt unfasslich gute TV-Sendungen - man muss sie nur finden. Leider wird in Deutschland darauf verzichtet, Fernsehen feuilletonistisch zu betrachten.

Jürgen Schmieder

Es gibt das Buch "Atlanta Nights" des amerikanischen Autors Travis Tea. Von vielen Literaturkritikern wurde es als eines der schlechtesten Bücher aller Zeiten verrissen - es wird als Standardwerk dafür herangezogen, dass amerikanische Verlage jeden Schrott publizieren. "Atlanta Nights" ist ein unfasslich schlechtes Buch. Aber würde deshalb jemand auf die Idee kommen, Literatur als schädlich zu bezeichnen? Oder gar zu behaupten, dass zuviel Lesen dumm machen würde? Wohl kaum.

Fernsehen

Ein Beispiel für gutes Fernsehen: die TV-Serie "Lost".

(Foto: Foto: ABC)

Diesem Vorwurf sieht sich das Fernsehen immer wieder ausgesetzt. Fernsehen macht dumm. Fernsehen macht träge. Fersehen macht aggressiv. Diese Vorurteile werden heruntergebetet, als wäre es der Katechismus der Kulturkritik. Klar, denkt sich der bildungsbürgerliche Leser, stimmt schon. Kein Wunder bei dem Schund, der da jeden Tage über die Bilschirme flimmert. Call-In-Sendungen. Casting-Freak-Shows. Lügendetektor-Spielchen. Laientheater-Gerichtsshows. Dschungel-Promis. Mentalisten-Hütchenspielertricks. Da muss man ja blöd werden.

Vielleicht liegt es daran, dass Fernsehen stärker als andere Künste einen Dialog mit der Industrie führt. Freilich müssen auch Theater, Literatur und Film finanziert werden, Unterhaltungsfernsehen wird jedoch seit jeher von Werbung unterbrochen, was den Wissenschaftler Joseph Boggs zu der Aussage verleitete: "The real program are the ads" - "Das wahre Programm sind die Werbefilme." Gesendet wird, was die Masse sehen will und sich Werbeinseln verkaufen lassen.

Durch diese Einnahmen jedoch gibt es ein Budget für Qualität. Das amerikanische Kino verfährt seit Jahren nach diesem Prinzip: ein Blockbuster finanziert zwei kleinere Filme. In der Computerspielindustrie wird ein ähnlicher Weg eingeschlagen - und auch im Fernsehen. Das hat zur Folge, dass es schlechte Fernsehsendungen gibt - aber auch unfassbar gute.

Die Doppelfolge am Ende der dritten Staffel der US-Serie "Lost" etwa verfügt über derartige dramatische und cineastische Qualität, dass renommierte Filmkritiker nicht scheuen, sie in die Liste der besten Filme des Jahres 2007 aufzunehmen. Die Mafiaserie "The Sopranos" ist eine moderne Form des Epos, die Actionserie "24" ist intensiver und spannender als viele Kinofilme. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Vom Drama über Komödie bis hin zur Action gibt es geniales Fernsehen - nicht nur in den Vereinigten Staaten.

Auch in Deutschland gibt es Qualitäts-Fernsehen - den "Tatort" etwa oder die Serie "Berlin, Berlin", die von 2001 - 2005 lief. Harald Schmidt konnte sich lange Zeit durchaus mit Jon Stewart messen, auch kleinere Formate wie "Quiz Taxi" sind gut gemachtes Fernsehen.

Man muss gute Sendungen nur finden in diesem Wust aus Angeboten - so wie man ein gutes Buch entdeckt, ein interessantes Theaterstück oder einen beeindruckenden Film. Bei diesen Künsten jedoch gibt es Experten in den Feuilletons. Sie werten, beurteilen, geben dem Interessierten Anstoß. Fernsehkritiken dagegen werden stiefmütterlich behandelt.

Auch die Rezeption ist Kunst

Ein "Tatort" wird nur besprochen, wenn gerade Platz ist oder es sich um eine Skandal-Folge handelt. So genannte Fernseheregnisse, die meist mit Luftbrücke oder Flucht oder Berlin zu tun haben, werden mit Glamour-Portraits über die Schauspieler abgetan. Ausländische Serien kommen so gut wie gar nicht vor. Warum eigentlich? Filme aus dem Ausland werden auch analysiert und besprochen.

Freilich gibt es interessante Fernseh-Kolumnen wie die "Teletext"- Serie von Stefan Niggemeier in der FAS. Eine fundierte und ausführliche Beurteilung von Fernsehen nach den Maßstäben, wie man sie beim Kino oder anderen Künsten anlegt, gibt es kaum.

Das wäre aber nötig, um in Deutschland eine Kultur des Fernsehens zu etablieren, wie es sie in den Vereinigten Staaten längst gibt. Dort werden Serien und Sendung feuilletonistisch besprochen, bewertet, analysiert. Fernsehen ist nicht nur Schund und Schrott und Schmarrn, sondern wird als Kunstform akzeptiert. Und die Zuschauer sind - in den guten Fällen - Rezipienten von Kunst. Joseph Boggs hat darüber ein Buch geschrieben: "The art of watching TV". Die Aussage ist eindeutig: Ferseh-Schauen macht nicht zwangsweise blöd. Das Rezipieren kann auch eine Kunst sein.

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