Fernanda Melchors Roman "Paradais":Ungeheurer Furor

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Eklatante soziale Unterschiede: Gated Community in Mexiko.

(Foto: imago images/YAY Images)

Niemand schreibt so hart, klar und wirklichkeitsgesättigt über Mexiko wie Fernanda Melchor. Ihr neuer Roman spielt unter den Putzkräften einer Gated Community.

Von Susan Vahabzadeh

Für Polo ist das Paradies die Hölle. Er arbeitet im "Paradais", einer geschlossenen Wohnanlage in Mexiko für die Reichen und Schönen. Weil so eine Gated Community aber eine sehr irdische Angelegenheit ist, muss irgendwer den Dreck wegräumen, den die Pool-Partys und die Haustiere und die verzogene Brut der Bewohner hinterlassen. Das ist Polos Job. Hätte er die Schule zu Ende gemacht, hätte seine Mutter nicht seine Cousine aufgenommen, gäbe es für Polo vielleicht irgendeinen Ausweg aus seinem Leben - aber an der Stelle, an der Fernanda Melchor ihren Roman "Paradais" beginnt, ist für Polo schon alles aus.

Er findet, der Dicke ist an allem Schuld. Stimmt aber nicht ganz. Ein Teil der Schuld liegt in den Umständen, und ein Teil ganz allein in Polo selbst. Wer macht sich schon schuldig und weiß um seine Verantwortung? Was Fernanda Melchor aus Polo herausarbeitet, aus dessen Sicht "Paradais" erzählt ist, ist ein ganz alltäglicher Mechanismus der Schuldverschiebung, nur eben nicht bei einer ganz alltäglichen Tat.

Fernanda Melchor, für ihren vorherigen Roman "Saison der Wirbelstürme" 2019 mit dem Anna-Seghers-Preis und vom Berliner Haus der Kulturen der Welt mit dem internationalen Literaturpreis ausgezeichnet, hat ursprünglich Journalismus studiert, sie stammt aus der Gegend, die sie beschreibt; wirklich in die Köpfe hineinsehen, beobachten, wie sich Ohnmacht und Wut und Hoffnungslosigkeit zu einer Aggression gegen Frauen verdichten, das kann man nur in der Fiktion. Sie hat das erfunden, klar - aber der Hintergrund ist ein Land, in dem tatsächlich extreme Ungleichheit mit erschreckenden Mordstatistiken einhergeht.

Arm und Reich begegnen sich in Melchors Mexiko nur, wo die einen die anderen bedienen

Polos Leben spielt sich an jener Schnittstelle ab, wo eine gesellschaftliche Verantwortung spürbar da ist - und doch ist ganz deutlich, dass er jede Eigenverantwortung zurückweist. Polo ist aggressiv, misogyn, voller Hass und vollständig unfähig, in sich selbst irgendetwas anderes zu sehen als ein Opfer. Er ist als Zentrum der Handlung irgendwie ein Widerling - und gerade deswegen ist es so spannend, seinen Gedanken zu folgen.

Der Dicke, das ist der Enkel reicher Leute aus der Wohnanlage, ein pickeliger Jüngling namens Franco, der seinerseits ein Ausgestoßener in seiner Gemeinde ist - der Vater hat ihn bei den Großeltern geparkt, weil der verzogene Spross von der Schule geflogen ist. Niemand will mit Franco zu tun haben, aber weil er sich immer billigen Fusel besorgen kann von dem Geld, dass er bei seinen Großeltern stibitzt, verbringt Polo seine Abende mit ihm am Flussufer, statt nach Hause zu gehen in sein Dorf. Er kann Franco nicht ausstehen, aber es ist ihm immer noch lieber, besoffen das Gefasel von Franco aushalten zu müssen, als nach Hause zu gehen, wo seine Mutter ihn mit ihren Schlappen schlägt und seine schwangere Cousine sein Bett besetzt.

Fernanda Melchors Roman "Paradais": Fernanda Melchor: Paradais. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach, 2021. 144 Seiten, 18 Euro.

Fernanda Melchor: Paradais. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach, 2021. 144 Seiten, 18 Euro.

Mit einem ungeheuren Furor lässt Fernanda Melchor in ihrem dritten Roman die Gedanken dieses Jungen vorbeirauschen, der sein Leben verwirkt hat, noch bevor er irgendetwas damit anfangen konnte - ein frauenfeindlicher, gewaltbereiter Wortschwall. In dem Dorf, aus dem Polo kommt, sind alle entweder arm oder kriminell. Irgendwo im Off ist die Stadt, Veracruz, offensichtlich nur ein Katzensprung. Für Polo aber ist sie unerreichbar. Eine andere Arbeit für ihn gibt es nicht. So sind die Verhältnisse in dem Mexiko, das Fernanda Melchor beschreibt, ein Graben trennt Arm und Reich, und nur da, wo die einen die anderen bedienen, berühren sich ihre Welten.

Der Protagonist ist unfähig, Glück, Schönheit oder Zuneigung auch nur zu benennen

Es ist die Chronik eines angekündigten Kontrollverlusts - Polo hat sonst nichts mehr zu verlieren, Macht hat er höchstens über sein eigenes Verhalten anderen gegenüber. Er hat sogar schon versucht, über seinen Cousin bei der mexikanischen Drogenmafia anzuheuern, so verzweifelt ist er. Keiner hat mit Polo auch nur einen Funken Mitleid oder bringt ihm ein Minimum an Respekt entgegen, und so weiß er dann auch gar nicht, was das ist.

Die Verrohung ihres Protagonisten drückt sich schon in seiner Sprache aus, voller Kraftausdrücke, unfähig, Glück oder Schönheit oder Zuneigung auch nur zu benennen. Was Melchor ihn denken lässt, ist eine Art Abspann - alle Details, die ihm noch einfallen, wie es zu der brutalen Bluttat kommt, in die ihr Roman gipfelt. Man kann nicht wirklich erklären, was in jemandem vorgeht, der sich an einer Gewaltorgie beteiligt. Aber wenn man es versucht, dann nur ganz und gar aus seiner Perspektive.

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