Literatur:"Kaffee und Zigaretten": Schirachs eigener Fall

Ferdinand von Schirach bei seiner Lesung und Buchvorstellung seines neuen Buchs Strafe im Kammer

Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, hier bei einer Buchvorstellung im März 2018.

(Foto: imago)

In seinem autobiografischen Buch erzählt Ferdinand von Schirach sein Leben nach dem gleichen Muster wie die Justizgeschichten in "Verbrechen" oder "Schuld". Das wirkt zunächst befremdlich.

Von Hubert Winkels

"Kaffee und Zigaretten" beginnt mit einem, so scheint es, autobiografischen Abriss der ersten zwanzig Lebensjahre des Autors. Die Neugier ist groß, schließlich hat der Mann viel erlebt als Anwalt in Strafprozessen, als Teil einer im Guten wie im Bösen namhaften Familie, als einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, der sich zudem gerne zur praktischen Philosophie, zu Recht und Ethik und Politik äußert.

Der erste von vierundvierzig lediglich mit Nummern versehenen Texten des Bandes ist ein kursorischer Schnelldurchgang durch Kindheit und Jugend. Vier Szenen werden aufgerufen, ein Ort, Farben, Gerüche, einige konkrete Details hervorgehoben: "das Ticken der Standuhr", "der ölige Schimmer in seiner Teetasse"; Synästhesie, Angst, Depression werden als psychologische Wahrnehmungsfilter benannt. Kurz, dicht, schnell das alles, wie beiläufig gereiht, und dennoch lebensprägend wie ein Stempel.

Die stärkste Erhebung darin markiert der Tod des Vaters, erlebt mit fünfzehn, und der eigene Selbstmordversuch kurz darauf, mit einem Seitenblick auf Kleists Ende 1811 am kleinen Wannsee.

Das Selbstverständliche an der Erzählung ist zugleich das Frappierende: Ferdinand von Schirach textet sein eigenes Leben nach dem gleichen Muster wie die Dutzenden Fallgeschichten in seinen Storybänden "Verbrechen" (2009), "Schuld" (2010) und "Strafe" (2018). So schreibt er eben, so kann er es, und so mögen es die Leser. Trotzdem mutet es seltsam, ja befremdlich an. Warum?

Glücksferne und Erschrecken über die Conditio humana grundieren diesen Text

Die Gerichtsgeschichten werden in der Regel aus der Perspektive eines Strafrechtsanwalts erzählt. Der wiederum macht sich zu guten Teilen die Perspektive des jeweiligen Angeklagten zu eigen, im Zweifel besser und zielführender, als dieser selbst es vermögen würde. Auf diese Weise werden Informationen beschafft, sortiert, bewertet, geordnet und vor Gericht und Leserschaft gebracht. Hier aber, in der Eröffnungsgeschichte von "Kaffee und Zigaretten", ist der Erzähler selbst der Gegenstand.

Er erfindet sich mit dieser Handvoll suggestiver Szenen und Handlungen selbst, schafft ein Bild für sich und andere. Zugleich muss der Leser aus zu wenigen berichtenden und auch poetisch vorgetragenen Elementen zu viel konstruieren. Es geht eben nicht um ein juristisch aufzuklärendes zweckorientiertes Handlungsgefüge, sondern um eine offene, existenzielle Situation, über die der Erzähler, weil es seine ist, potenziell unendlich viel weiß oder sagen könnte. Warum zieht er es dagegen vor, uns mit vier kurzen Exempla und einer pars pro toto Erzählstrategie abzuspeisen?

Nun, Schirach beruhigt sich und uns, lenkt von der autoritativen Anmaßung der Selbstinszenierung ab, indem er lediglich lakonisch knapp von sich spricht. Bescheiden wirkt das trotzdem nicht, der Gehalt der Autofiktion wiegt zu schwer: Sinnskepsis, Trauer, Depression dominieren, Möglichkeiten der Lebensbewältigung stehen auf dem Spiel. Der Erzähler hat den Blues, er ist damit groß geworden. Enttäuschung, Glücksferne, Erschrecken über die Conditio humana im Allgemeinen, über das kriegerische Menschengeschlecht und die jüngere deutsche Geschichte im Besonderen grundieren diesen so gut wie alle folgenden Texte. Deshalb darf man dieses erste Prosastück des Buches getrost für dessen Kern halten. Alle weiteren Betrachtungen, die mit den Geschichten auf essayistisch-erläuternde Weise verbunden sind, folgen diesem fatalistischen Grundkurs.

Auch Großvater Baldur hat seinen Auftritt und wird hart gezeichnet

Die meisten mit schnellem, hartem Strich hingeworfenen Szenen und Betrachtungen sind kleine Addenda zur eigenen Lebensgeschichte, die sich gelegentlich zu Parallelgeschichten über Bekannte oder Mandanten auswachsen. Auch Großvater Baldur hat seinen Auftritt und wird hart gezeichnet. Lässige Männer in alten Filmen werden als Ikonen herbeizitiert, bleiben aber in ihren Nischen. Jean-Paul Belmondo in "Außer Atem", wie er auf dem Pariser Boulevard im Sterben noch einmal an seiner Zigarette zieht. Auch Helmut Schmidt, dessen wesentliches Erbe offensichtlich in seiner dem Zeitgeist trotzenden Raucherhaftigkeit besteht.

Rauchen wird überhaupt immer mal wieder der Vergänglichkeit und damit dem Tod im Leben zugeordnet, nicht als Ursache freilich, sondern als eine Art unauffälliger künstlerischer Ausdruck. Die Anwaltskanzlei des Erzählers befindet sich im selben Haus wie die Wohnung von Imre Kertész während seiner Berliner Jahre. Daraus macht Schirach eine Genreszene mit festlich gedecktem Tisch. Er spielt mit dem älteren Lars Gustafsson Tennis und geht dessen Todesfantasien nach, mündend in den Versen "Es ist Zeit nach Hause zu gehen. / Doch wir sind schon zu Hause".

Häufig meldet sich auch ein alter Bekannter beim Erzähler, ein ehemaliger Mandant, ein alter Mitschüler aus dem Internat im Schwarzwald oder eine Geschäftspartnerin. Sie erzählen ihre Lebensgeschichte in Kürzeln, erinnern sich an eine Begebenheit, an einen besonderen Augenblick oder Gegenstand, und sehen all das dahinschwinden im rasenden Fluss der Zeit.

Meist ragt nur eine Einzelheit heraus, ein Erinnerungsstück, und bekommt einen fast sakralen Charakter: ein Fetisch, der die Stelle eines unwiderruflich Verlorenen besetzt. Ganz wichtig ist dabei, dass wirklich wertvollen Dingen kein gesellschaftlicher Wert zukommt, sondern nur jener Wert melancholischer Platzhalterschaft. Auch das Kunstwerk bemisst sich nicht durch den aktuellen Marktwert, sondern durch seinen individualisierten Erinnerungswert.

"Sich selbst zu lieben, das ist zu viel verlangt"

Eine steinreiche, vornehme alte Dame bittet den Erzähler in ihre Stammkneipe, eine billige Boxerbudike, weil dort ein Bild jenes massigen, proletarischen Boxers hängt, den sie einst geliebt hat. Nicht nur hier übrigens zeigt der grundtraurige Erzähler Witz. Die Geschichte endet mit den nachtragenden Worten der einstigen Geliebten: "Er starb bei einem Picknick an einem Wespenstich. Anaphylaktischer Schock, Herzstillstand (...) Das habe ich ihm nie verzeihen können."

Der Umfang der Geschichten reicht von einer Seite bis zu zehn. Es kann eine kuriose Statistik darunter sein, ein kurzer Kriminalfall sogar, oder auch eine kleine, persönlich gefärbte Laudatio auf den Filmemacher Michael Haneke. Der Erzähler sitzt gerne an einem lose mit dem Geschehen verknüpften städtischen Ort und raucht. Manche Texte wirken wie schnelle Feuilletons, manche wie Essays, deren wesentlicher Teil aus der exemplarischen Erzählung besteht; andere Geschichten laufen auf ein ethisches Prinzip oder eine philosophische Sentenz hinaus.

Doch belehren will Schirach nicht, zugleich kann er es aber auch nicht lassen. Warum er das nicht will, kann man schon seinen lakonischen Storybänden entnehmen, die keine übergeordnete Perspektive kennen. Selbst in seinem Erfolgsstück "Terror" gibt er die Gottposition an die Gerichts- und Theaterbesucher zurück. Er will uns in den Stoff verstricken. Im vorliegenden Buch gibt er seinem Affen Zucker. Allerdings nie offensiv, immer verschämt und im Beiläufigen versteckt. Er will partout nicht besserwisserisch wirken. Eben deshalb fallen die schmal gehaltenen Maximen, Reflexionen und Sentenzen umso mehr auf.

Er will uns Wichtiges über die Vergeblichkeit des Lebens sagen

Eine Kompilation ergäbe ein kleines Brevier des zeitgenössischen Stoizismus. "Sich selbst zu lieben, das ist zu viel verlangt. Aber die Form ist zu wahren, es ist unser letzter Halt", heißt es, oder: "Auch ohne die Begabung, glücklich zu sein, gibt's eine Pflicht zu leben". Schließlich: "Im Leben ist jede Vorbereitung auf den Tod sinnlos. (...) Das Ende ist nur noch ein Gleiten, sanft, schmerzlos und ohne Lärm. Alles daran ist richtig, der Tod ist die beste Erfindung des Lebens."

Man sieht, man kann etwas lernen beim Lesen, es steckt eine verkappte Weisheitslehre in dieser szenisch aufgesplitterten Lebensbeschreibung. Der Witz ist, dass dies so ganz und gar contre cœur passiert.

In einem Lob des Haikus schreibt Schirach wie über seine eigene Absicht: "Es gibt Geheimnisse und Anspielungen, die Geschichten lösen sich nie ganz auf, aber es gibt keine Metaphern, so wie es im Leben keine Metaphern gibt. Das Bild eines Haikus ist sofort da, es ist einfach, und es ist vollkommen." Schön wär's! Doch bei Schirachs "Kaffee und Zigaretten" hilft keine rhythmisierte parataktische Reihung, kein das Beiläufige ankündigender Titel, kein Durchnummerieren der Texte, kein cooles Filmzitat: Es ist unverkennbar, er will uns Wichtiges über die Vergeblichkeit des Lebens und seiner eben daraus resultierenden Würde sagen. Auch das ein oder andere über den Vorrang unserer Selbstgesetzgebung, politisch gewendet: der Verfassung gegenüber unseren Affekten, zumal dem Hass, gegenüber Populismus, Abwertung und Ausgrenzung anderer. Er tut es nicht in der Form der Predigt, er erzählt.

Aber im Kern ist er auf dem Weg zum moralischen Exemplum und zur philosophisch belehrenden Erzählung, der conte philosophique. Das ist nichts Schlimmes, auch wenn der skrupulöse erzählende Autor, dessen geschichtliche Helden Sokrates und Voltaire sind, das wohl trotzdem nicht gerne hört. Was er will, ist Erzählen pur; was er bietet, ist moderne zeitgemäße Erbauung. Mit den renovierten Gattungen der Aufklärung.

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten. Luchterhand Verlag, München 2019. 193 Seiten, 20 Euro.

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