Theater:Das große Mühlrad

Theater: In München passiert etwas Eigenwilliges, nämlich sehr viel "Faust", Goethe im Original, inklusive Zueignung und Vorspiel auf dem Theater und Prolog im Himmel.

In München passiert etwas Eigenwilliges, nämlich sehr viel "Faust", Goethe im Original, inklusive Zueignung und Vorspiel auf dem Theater und Prolog im Himmel.

(Foto: Gabriela Neeb/Münchner Volkstheater)

Regisseurin Claudia Bossard zerlegt am Münchner Volkstheater mit "Feeling Faust" die beiden Teile von Johann Wolfgang Goethes Tragödie. Der Ausgang ist ernüchternd.

Von Egbert Tholl

Dann ist es passiert: Am 13. September 2022 fiel Goethes "Faust" aus dem hiesigen Kanon der Pflichtlektüre für die Oberstufe am Gymnasium. Nun kann man in Bayern Abitur machen, ohne je das Drama gelesen zu haben, andere Bundesländer haben dies, ohne größeren Schaden zu nehmen, bereits vorgemacht. Und vermutlich braucht man bald auch nicht mehr mit "Faust"-Zitaten daherkommen, es sei denn, man wolle den Eindruck erwecken, vollkommen aus der Zeit gefallen zu sein. Der Deutsche Bühnenverein vermeldet, dass in der Saison 2020/21 der "Faust" nicht mehr das meistgespielte Drama auf deutschen Bühnen ist, sondern Büchners "Woyzeck", die geschundene Kreatur, die andauernd Erbsen essen muss, überholt den Sinnsucher und Weltenerfinder. Immerhin sind beide Autoren aus Hessen, Georg Büchner und Johann Wolfgang von Goethe.

Gehört der "Faust" nun in die Tonne? Das muss man diskutieren. Also lädt die Regisseurin Claudia Bossard, geboren 1985 im schweizerischen Zug, im Münchner Volkstheater erst einmal ein zu einem literarischen Septett, zu einer nerdigen Expertencombo, situiert auf der großen Bühne in stylischer kleiner Runde. Recht ulkig ausstaffiert hat Andy Besuch die Expertinnen und Experten, große Brillen, blöde Perücken, es macht ja auf dem Theater immer Spaß, wenn man sich mit meist großem Erfolg beim Publikum über Dramaturgen und Germanistinnen lustig macht. Bossards Abend heißt "Feeling Faust", da ist schon klar, dass der Erkenntnistheorie bald der Garaus gemacht wird.

Aber erst einmal reden sie alle echauffiert aufeinander ein, natürlich auch hinreichend feministisch unterfüttert, weil ein alter, weißer Sack, der sich mit Schmuck ein junges Mädchen gefügig macht, heute gar nicht mehr geht, "habe nun ach" hin oder her. Luise Deborah Daberkow, eine der Schauspielerinnen, bringt dann noch ein paar Volten ein, mit denen man vom Autor aufs Werk schließen kann: Goethe und latente Homosexualität, Beziehungsangst, Höhenangst, Angst vor der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter. Trotz aller Ängste aber immer Kopf: "Ich sag immer, Johann, es ist der Atem, der uns von den Bäumen unterscheidet. Und das Träumen von der Steinen."

Alles hat Faust erfunden, Pippi Langstrumpf und die Nudel, er hat den Suezkanal gegraben mit seinem Weimarer Bagger

Jede und Jeder bekommt Gelegenheit zu einem Ausbrüchle, wovon nicht jedes den jungen Darstellenden gleich gut gelingt. Zu Goethe und zum "Faust" wurde ja schon jede These formuliert, die kann man auch im Schnelldurchlauf zusammenschütten, doch die letzte Schwelle, die dieses Theorietableau von wirklich geistreicher Auseinandersetzung mit dem Thema trennt, wird nicht überschritten. Dann räumt die Technikabteilung ziemlich ruppig das Gesprächsrundeninterieur weg, einige klammern sich noch an ihre Stühle, und die Bühne wird leer. Eine blasse Plastikpalme steht noch verloren herum, der Raum wird von einem weißen Stoffhalbrund eingesäumt, die Expertinnen wirken darin wie gefangen.

Dann passiert etwas Eigenwilliges, nämlich sehr viel "Faust", Goethe im Original, inklusive Zueignung und Vorspiel auf dem Theater, Prolog im Himmel, also auch jene Passagen, die heute kaum einer noch auf die Bühne bringt. Fast hat man den Eindruck, Bossard erfasst eine gewisse Sentimentalität, weil der arme "Faust" jetzt vom Gymnasium verbannt ist, da muss man retten, was noch zu retten ist. Der Schüler, dem das Mühlrad im Kopf herumgeht, kommt aus dem Publikum, "das Pathos brächte einen gewiss zum Lachen", wenn es ernst gemeint wäre.

Aber das ist es natürlich nicht, es geht fahrig, verworren, wirr zu. In einem Glaskasten mit Brokattapete wird manchmal etwas konkret verhandelt, aber dann gehen sich die Diskutanten gleich wieder an die Gurgel, eine Drag-Queen-Parade kommt vorbei, gleichgeschlechtliche Beziehungsinteressen huschen vorüber. Dazu ist immer Musik, mal Barock, mal das Vorspiel von Richard Wagners "Tristan", das seit Lars von Triers Film "Melancholia" zum Bühnentopos geworden ist, Morris Albert "Feelings, nothing more than feelings", natürlich, darum geht es ja, mehr fühlen, weniger denken.

Bissel Denken wäre aber schön. Ganz anders als Leonie Böhm, die mit ihren "Räuberinnen" Schillers "Räuber"-Drama konzis, konsequent und großartig zur reinen Frauenerzählung umwandelte, entwirft Bossard ein offenes Assoziationskaleidoskop, in dem die brillanten Momente in der Flut der Uneigentlichkeit schwierig aufzuspüren sind. Videofluten künden erst von heiler Natur, dann von Katastrophen, das zielt alles auf den Faust im zweiten Teil, den Weltenumbauer und Usurpator, dem dann auch Steffen Link seine Stimme gibt: Alles hat er gemacht, jedes Projekt, hat alles geschrieben, alles erfunden, Pippi Langstrumpf und die Nudel, hat den Suezkanal gegraben mit seinem Weimarer Bagger. Die vielen jungen Menschen im Publikum strahlen, mithin hat das alles schon seine Berechtigung, am Münchner Volkstheater mit dessen einmaliger Erfolgsgeschichte generationenübergreifender Akzeptanz ohnehin.

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