Süddeutsche Zeitung

Fünf Favoriten der Woche:Es war einmal

Fünf Wochengewinner: Menschen machen Minuten, die Wildnis ruft, Beton findet Gnade, die Rettung für Filmfreunde und ein experimenteller Violinist.

Von SZ-Autoren

"The Humanclock"

Wenn man im Netz "Humanclock" aufruft, erscheint die aktuelle Uhrzeit. Sie wird allerdings auf Fotos angezeigt, die Menschen irgendwo auf der Welt als Porträt einer einzelnen Minute geschossen haben. Ist sie vorbei, wechselt das Bild. Für jede der 1440 Minuten eines Tages gibt es unzählige Bilder, die Menschen beim Leben und Dinge beim Rumstehen zeigen. Der Algorithmus wählt unter fast 30 000 Bildern aus, man kann darin stöbern. Und sich darüber wundern, welche Energie Menschen allerorten aufbringen, ihr Zeitzeichen zu setzen. Am besten sind die Videos: Anstreicher übermalen "1:59" Uhr, ein Post-it mit "6:55" taucht im Stau von Boston auf. Tomaten wiegen "303" Gramm, in Oregon demonstriert man für oder gegen "4:16". Jede Minute, so scheint es, ist bereits eine vergangene Minute. Und irgendwo war sie sicher aufregender.

Bernd Graff

Das Datenportal des "Museums für Naturkunde Berlin"

Die Hygrolycosa rubrofasciata ist bei den Lycosidae, den Wolfsspinnen, zu finden, in einer Unterrubrik zu den Arachnidae. Beeindruckend ist ihr klackendes Trommeln auf ein Blatt. In der digitalen Karteikarte, die ihr beigegeben ist, erfährt man, dass die Aufnahme am 16. April 1988 in Buckow in der Märkischen Schweiz entstand nahe der "Alten Mühle", und wer im Hintergrund zu hören ist: Weidenlaubsänger, Kolkraben, Rotkehlchen.

Das Tierstimmenarchiv des Naturkundemuseums in Berlin ist eines der ältesten und umfangreichsten seiner Art. Schon in den 30er-Jahren wurden in Berlin Tierstimmen aufgezeichnet und auf Schallplatte gepresst, 1951 wurde das Archiv gegründet, inzwischen umfasst es 120 000 Tonaufnahmen, von 1800 Vogelarten, 580 Säugetierarten, zahlreichen Amphibien- und Reptilienarten. Derzeit erweitert das Museum wie alle Institutionen, die auf Publikumsverkehr ausgerichtet sind, sein digitales Angebot. Es lockt mit dem Ruf des Fischertukans, dem Maunzen des Nebelparders, dem Bellen eines Mähnenwolfes. Wissenschaftler, Schulklassen, verhinderte Besucher können das Archiv nutzen, dessen Online-Datenbank 75 000 Einträge umfasst. Es erlaubt den zielgerichteten Zugriff über die Ordnungsraster der Taxonomien, aber man muss nicht Latein können, man wird die Brunftrufe des Mississippi-Alligators und die Abwehrlaute eines jungen Brillenkaimans schon finden und bei den Wassergeräuschen an den Mississippi denken, obwohl die Karteikarte sagt, dass die Aufnahme aus dem Tierpark in Berlin stammt. Die Digitalisierung hat eine neue Form des Stöberns hervorgebracht, eine Nachfolgerin des Blätterns in Konversationslexika, den Gegentypus des gezielten Zugriffs. Die Schriftseite des Tierstimmenarchivs trägt beidem Rechnung. Sie enthält ein Lexikon der versammelten Tierarten auf Lateinisch, Deutsch und Englisch. Im Lateinischen des Linnaeus gehört die Art Accipiter gentilis zur Familie der Accipitridae und der Ordnung der Accipitriformes, auf Deutsch als Habicht zu den Habichtartigen unter den Greifvögeln. Man kann sich die Aufnahmeorte der Tierstimmen auf einer Weltkarte anzeigen lassen.

Lothar Müller

Spezialbeton

Jetzt, da sich alles nach Frühling und Natur sehnt, abgesehen von Pollen- und Gartengrill-Allergikern, hat es der Beton noch schwerer als sonst. Holz ist der "natürliche" Baustoff der Stunde: umweltgerecht (kommt drauf an) und dennoch Hightech (kommt drauf an). Gut so. Aber: Beton, der schon lange verunglimpft wird als Baustoff einer in Ungnade gefallenen Moderne, ist besser als sein Image. In München zum Beispiel soll das sanierungsbedürftige "Arabellahaus", eine grandiose Wohnscheibe der Nachkriegsära, nun doch erst 2030, also vier Jahre später als geplant abgerissen werden. Der Eigentümer, die Bayerische Hausbau GmbH, sagt, das sei einem schon zu Sanierungsarbeiten herangezogenen Spezialbeton zu verdanken. Beton als Gnadenfrist-Lieferant in der Todeszelle der Baukultur. Da kann man ruhig mal sagen: Danke, Beton!

Gerhard Matzig

Filmarchive online

Für alle, die Netflix schon leer geschaut haben und denen Apple TV nur noch ein müdes Gähnen entlockt: Es gibt Rettung. Der Internationale Verband der Filmarchive, FIAF, hat eine Liste mit allen Filmmuseen zusammengestellt, die ein kostenloses Streamingprogramm anbieten, während die Kinos geschlossen sind. Sie ist unter fiafnet.org/filmsonline abrufbar. Die Auswahl führt durch Filmarchive auf der ganzen Welt, von Australien über Mexiko bis nach Frankreich. Aus Deutschland sind die Deutsche Kinemathek und das Münchner Filmmuseum dabei. Auch die amerikanische Filmakademie hat einen unterhaltsamen Youtube-Channel mit Probeaufnahmen von Audrey Hepburn, einem Heimvideo von Humphrey Bogart und Lauren Bacall, Aufnahmen von Graf Zeppelins Flug um die Welt im Jahr 1929 und alten "Star Wars"-Trailern.

David Steinitz

Pietro Locatelli "Il Labirinto Armonico"

Es zeugt von Selbstbewusstsein, wenn ein komponierender Violinvirtuose seinem Konzert den Untertitel "Il Labirinto Armonico" gibt und herausfordernd hinzufügt: "Facilis aditus, difficilis exitus", etwa "leicht einzusteigen, schwierig herauszukommen". Pietro Locatelli, der 1695 in Bergamo geboren wurde, machte sich in jungen Jahren nach Rom auf, wo er vielleicht noch beim großen Arcangelo Corelli Unterricht hatte. Über Mantua kam er nach Venedig, er könnte dort Vivaldi getroffen haben. Er machte dann nördlich der Alpen in Deutschland Furore und landete 1729 in Amsterdam. Dort blieb er als Virtuose hochgeschätzt. Er handelte auch mit italienischen Geigensaiten und starb 1764.

Auf Abbildungen zeigt sich ein gut aussehender, modischer Mann, der nach Anekdoten und Berichten als eitel und herablassend geschildert wird. Doch er gilt als der italienische Wundergeiger, nach dem erst im 19. Jahrhundert Niccolò Paganini zum Geiger aller Geiger wurde. Locatelli schrieb neben Violinsonaten und Kammermusik vor allem Konzerte. Opus 3 ist das berühmteste: "L'Arte del Violino", zwölf Konzerte nebst 24 Solo-Capricci, die als Kadenzen in die Kopf- und Finalsätze eingefügt werden können.

Der neugierige, exzellente Violinist Ilya Gringolts hat mit dem Finnish Baroque Orchestra drei Konzerte aus Locatellis Op. 3 eingespielt (Bis), das 9. in G-Dur, das 11. in A-Dur und das 12., das legendäre "Labirinto armonico", in D-Dur. Das ist zuerst höchst abwechslungsreiche Belcanto-Musik, vor allem in den edel ausgesungenen langsamen Mittelsätzen. Doch alles spitzt sich ins Experimentelle zu bei den Capricci: Da arpeggiert, trillert und rast Gringolts in höchste Höhen jenseits der Schneegrenze - Locatelli hatte sich ein längeres Griffbrett als üblich bauen lassen - mit Doppelgriffkaskaden und weiten Streckungen der linken Hand. Das kann leicht quietschen, von der Intonation ganz abgesehen. Doch bei Gringolts hat diese extreme Akrobatik etwas von selbstvergessenem Seiltanz, von Lust am Extremen und Freude an exaltiertestem Violinspiel - toll!!

Harald Eggebrecht

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