Fünf Favoriten der Woche:Soziale Haltestellen

Fünf Favoriten der Woche: Einer mit sehr viel Klanggefühl: der 32-jährige Pianist Alexander Krichel.

Einer mit sehr viel Klanggefühl: der 32-jährige Pianist Alexander Krichel.

(Foto: Jan Prengel)

Die Trinkhalle ist endlich immaterielles Kulturerbe. Der Pianist Alexander Krichel spielt auch in kleinen Hallen groß. Moritz Sieberts "Zahlvaterschaft" läuft auf der Berlinale, eine "Blade Runner"-Doku auf Arte, und bitte nicht verpassen: Bertel Thorvaldsen in der Münchner Glyptothek.

Von SZ-Autorinnen und SZ-Autoren

Der Pianist Alexander Krichel

Ganz unbekannt ist er nicht mehr, der Pianist Alexander Krichel. Er hat bereits mehrere CDs veröffentlicht, konzertiert inzwischen weltweit und meist in materiell wie ideell größeren Sälen als dem Gautinger Kulturzentrum Bosco. Dass er nun dort auftrat, zeigt vor allem, dass die meisten Konzertsäle noch immer geschlossen sind. So spielt man, wie in diesem Fall, auch mal in einem akustisch weniger optimalen Saal, mit harten glatten Wänden und entsprechend direktem Widerhall, was den Steinway manchmal zu laut erscheinen lässt, obwohl Krichel in Beethovens Sturm-Sonate oder Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" doch nur die Forte-Anweisung der Partitur befolgt.

Aber unabhängig von den im Übrigen nicht für jedes Ohr völlig widrigen akustischen Umständen - man hört jedes noch so winzige Detail - gewinnt man doch den Eindruck, Krichel sollte auf exzessive Lautstärken verzichten, denn sein Pianospiel ist wunderbar klangvoll und stellenweise geradezu beseelt. Lautstärke macht sein Spiel nicht überzeugender, auch straffe Spannungsbögen scheinen ihm noch nicht so recht zu gelingen oder wenn es gilt, metrische Querstände hervorzuheben, den pulsierend durchlaufenden Rhythmus der einen Hand gegen rhythmisch versetzte melodische Bruchstücke in der anderen zu stellen. Da geht ihm einiges zu glatt von der Hand. Aber die lyrischen Passagen, die lassen den Hörer erahnen, was in dem 32-jährigen Pianisten steckt. Sie sind bei ihm nie beiläufig, im Gegenteil, es sind die konzentriertesten, intensivsten musikalischen Momente.

Dass ihm dies selbst in den pianistisch fulminanten, meist kraftvoll auftrumpfenden "Bildern einer Ausstellung" gelingt, ist erstaunlich. Krichel wird da nie schroff oder grobschlächtig, schon der resolute aber maßvolle Beginn zeigt die Richtung. Der Pianist findet zwischen den üblichen Extremen lautstark orgelnder Akkorde (am häufigsten zu hören) und trockenem Stechschritt eine musikalische Mitte, die seinen hohen Klangsinn belegt. Krichel hat ein untrügliches klavieristisches Klanggefühl. Das haben, leider, bei Weitem nicht alle großen oder mittelgroßen Pianisten. Aber die ganz großen, die haben es. Helmut Maurò

Der Bildhauer Bertel Thorvaldsen

Glyptothek Bertel Thorvaldsen

Rudolph Suhrlandt, Porträt des Bildhauers Bertel Thorvaldsen, Öl auf Leinwand, 1810.

(Foto: Thorvaldsens Museum Kopenhagen)

Der Däne war in der Ära der Antikenbegeisterung vor 200 Jahren der berühmteste klassizistische Bildhauer neben Antonio Canova. Beseelter Marmor, mal zart, mal markig. Als Protestant durfte er sogar ein Grab für den Papst in Rom schaffen, wo er seit 1797 als europäischer Kunst-Heros mit einem riesigen Showroom wirkte, sowie eines für den Stiefsohn Napoleons in München. Und dieses München, namentlich in Gestalt von Kronprinz und König Ludwig, konnte nicht genug von ihm kriegen. Thorvaldsen blieb zwar lieber in Rom und schickte einen Adonis mit Jahrzehnten Verspätung, hinterließ aber trotzdem so einige Spuren im Wald der klassischen Säulen, die damals errichtet wurden. Die bayerisch-dänische Ausstellung in der Münchner Glyptothek wurde nun, nach Corona-Unbill, zum Glück bis zum 12. September verlängert. Johan Schloemann

"Zahlvaterschaft" - ein Film von Moritz Siebert

Zahlvaterschaft

Szene aus dem Film "Zahlvaterschaft": Gerson Liebl, Enkel eines deutschen Kolonialbeamten aus Togo, im Hungerstreik vor dem Berliner Rathaus.

(Foto: Berlinale)

In seinen letzten beiden Filmen, "Les sauteurs" und "Ma nouvelle vie européenne", dokumentierte der deutsche Filmemacher Moritz Siebert gemeinsam mit Abou Bakar Sidibé, einem Migranten aus Mali, dessen Weg über die Grenzzäune von Melilla nach Deutschland. Sidibé filmte dabei selbst sein Begehren nach einem besseren Leben - und ein Europa, das ihn mit Zäunen und einem inhumanen Asylsystem davon abhalten will. Siebert blieb im Hintergrund, als Ermöglicher eines aktivistischen, kollaborativen Filmemachens, das von der Notwendigkeit getragen wird, die von Europa Ungewollten einzubinden, ihnen eine Stimme und ein Bild zu geben.

In "Zahlvaterschaft" (Fatherland), der jetzt auf der Berlinale im Kurzfilmprogramm des Forum Expanded läuft, setzt Siebert seine Arbeit ohne Sidibé fort und porträtiert einen weiteren Kampf um Aufenthaltsrecht. Gezeigt wird, in schwarz-weißen Bildern, der einsame Hungerstreik von Gerson Liebl, Enkel eines deutschen Kolonialbeamten aus Togo, vor dem Berliner Rathaus. Als Enkel eines Deutschen fordert er die deutsche Staatsbürgerschaft. Auf der Tonspur verliest eine Frauenstimme alte Akteneinträge - Unterhaltsvereinbarungen des Kolonialarztes und Warnungen vor "Mischehen" aus der Kaiserzeit - sowie die Reaktionen heutiger deutscher Behörden auf Liebls Petition: Da sein Großvater die Großmutter nie geheiratet habe, sei er nach damaligem Recht kein Deutscher, so die Begründung. Der Großvater sei ein "Zahlvater" gewesen, kein richtiger.

Liebls Kampf ist jedoch kein Kampf darum, "Deutscher" zu werden, sondern ein Kampf um seine Anerkennung als Erbe der Kolonialgeschichte Deutschlands. Was, wie in Sieberts Filmen mit Sidibé, in eine Nicht-Begegnung mündet: Wir sehen nur Liebl, während "Deutschland" für ihn, aber auch für die Zuschauer unsichtbar und unzugänglich, außerhalb des Bildes bleibt. Auch deswegen wird Liebl, wie vor ihm Sidibé, zur komischen Figur. Die fixe Idee, ein besseres Leben zu wollen, Reparationen zu erhalten, Staatsbürger zu werden, erscheint in dieser Welt, die sich in ihrer Abschottung und Kälte offenbart, absurd. Es ist die feine Ironie hinter diesen vergeblichen Kämpfen, die Sieberts Filmprojekte auszeichnet, und die sie, filmisch wie politisch, so wertvoll macht. Philipp Stadelmaier

Die Trinkhalle

Kiosk Pauls Eck in Essen Altenessen Blick auf den Kiosk Kioske im Ruhrgebiet

Muss man sich groß trinken: "Paulis Eck" in Essen, als Trinkhalle nun Kulturerbe im Revier.

(Foto: Ralph Lueger / imago)

Schon der Name ist ehrlich, zumindest fast. Während die Welt heute dazu neigt, aus Hausmeistern "Facility Manager" zu machen, bezeichnet das Wort Trinkhalle ganz einfach, was hier passiert: Es wird getrunken. "Halle" stimmt zwar meist nicht ganz, Büdchen oder Kiosk träfe es besser, aber wer trägt schon nach dem dritten Pils nicht ein wenig dicke auf. So oder so erfuhr die Trinkhalle nun eine große Ehrung, aber nicht etwa dafür, dass sie in Lockdown-Zeiten kalte Biere für Treffen auf kalten Bürgersteigen verkaufte. In ihrer Funktion als "soziale Haltestelle" im Revier ist sie nun immaterielles Kulturerbe des Landes Nordrhein-Westfalen. Damit wird ihr zu Recht derselbe Rang eingeräumt wie dem Steigerlied der Bergleute, das ebenfalls geehrt wurde - und nach dem vierten Pils manchmal leise in Trinkhallen gesummt wird. Moritz Baumstieger

Doku über das Phänomen "Blade Runner"

Fünf Favoriten der Woche: Keine Szene aus "Blade Runner", sondern eine Aufnahme aus dem Los Angeles der Gegenwart.

Keine Szene aus "Blade Runner", sondern eine Aufnahme aus dem Los Angeles der Gegenwart.

(Foto: Ralf Ilgenfritz / Arte)

Es war einmal im Jahr 2019, als in Los Angeles fliegende Autos durch Hochhausschluchten flitzten, und sich am Boden unter grellen Neonreklamen Roboter versteckten, die kaum noch von den verwahrlosten Bewohnern der Stadt zu unterscheiden waren. So stellten sich 1982 der Regisseur Ridley Scott und der Designer Syd Mead in dem Film "Blade Runner" die Zukunft vor. Eine neue Arte-Doku besucht nun fast 40 Jahre später Originalschauplätze, Fans und Darsteller. Angst vor künstlicher Intelligenz, übermächtigen Konzernen und sozialer Ungleichheit sind längst Wirklichkeit geworden. Ein Obdachloser meint, der Film handele von der Zukunft, also seinem Leben, und klingt dabei kein bisschen verrückt. In Bildern, die von denen des Kinofilms nur schwer zu unterscheiden sind, finden die Filmemacher eine Gegenwart, die einmal eine unglaubliche Zukunft war. Nicolas Freund

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:Künstlerische Care-Arbeit

Ein neuer, alter Comic von Maurice Tillieux, eine Schale in der Münchner Antikensammlung, was von "Pink Floyd", die Ausstellung Cohabitation und eine Ausstellung über anonyme Briefe aus der DDR.

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