Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Woche:Bitte nicht auflegen

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Ein verlorener Ort, an dem man Münzen gegen gute Gespräche tauschen kann. Diese und weitere Empfehlungen der Woche.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Kulturgeschichte: Tschüss Telefonzelle

Wie schnell alte Kulturtechniken und die für sie benötigte Hardware in Vergessenheit geraten, zeigte neulich die Schnitzeljagd beim Kindergeburtstag des Siebenjährigen: Den nächsten Hinweis, stand auf einem vom Papa versteckten Zettel, findet ihr dort, wo man Münzen gegen gute Gespräche tauschen kann. Große Ratlosigkeit. Selbst noch, als die Schnitzeljäger vor einem kaum zu übersehenden Stück Stadtmöblierung standen - grau mit rosa, nein, magentafarbenem Dach und aufkleberverklebter Tür. Dass man in dieses Häuschen urinieren kann, war nicht zu überriechen. Dass man in ihm auch telefonieren kann, so richtig mit einem Hörer an einem Kabel - heftiges Erstaunen.

Ihr neuerworbenes Wissen kann die Geburtstagsparty jedoch gleich wieder einmotten: Ab Montag werden die in Deutschland immer noch am Netz hängenden Münzfernsprecher "deaktiviert", wie die Telekom in einem Blogeintrag mitteilt. "Fasse dich kurz", stand einst in den Telefonzellen geschrieben, sie selbst hatten einen sehr langen Atem: Der erste Fernsprechkiosk wurde 1881 in Berlin in Betrieb genommen, also vor 142 Jahren. Sie überlebten die Einführung des Mobilfunks, der Flatrates, der Smartphones - bis heute stehen immerhin noch 12 000 in der Republik herum. Deren Telekommunikationsgesetz wurde 2021 jedoch geändert, die "Verpflichtung zum Betrieb öffentlicher Telefone" entfiel. Ende einer langen Ära: Im Jahr 2025 soll das letzte demontiert sein.

Film- und Fernsehschaffende spielen zwar schon seit Jahren gerne mit nervigen Tippgeräuschen, eingeblendeten Chatverläufen und Videocalls, wenn Protagonisten über Distanz interagieren. Einen physischen Handlungsort bietet die digitale Form der Kommunikation aber nicht mehr: Wie in "La Boum" und "True Romance" in Telefonzellen geknutscht und gefummelt wurde, wie Harry Potter und Trinity in "Matrix" mit Telefonzellen geheimnisvoll verschwanden, wie die Häuschen in "Die Vögel", "Dirty Harry" oder "Bei Anruf Mord" zum Grusel- und Tatort wurden - all das zeigt ein Beitrag der Reihe "Blow up" in der Arte-Mediathek.

"Nicht auflegen!", will man angesichts dieser beeindruckenden kulturhistorischen Bedeutung der Telefonzellen rufen. Muss aber auch zugeben: Der Grund, warum man in ihnen so gut Hinweise für Schnitzeljagden verstecken konnte, war ja, dass sie kein Mensch benutzt. Und deshalb die Gefahr bei Null liegt, dass jemand den Zettel für den Kindergeburtstag entfernt. Moritz Baumstieger

Lyrikband: "im darknet sind alle katzen miau"

Der Zusammenhang zwischen cat content und Internetkultur ist, wie man so sagt, popkulturell gut erforscht - aber ein Lyrikband geht immer. Et voilà: "im darknet sind alle katzen miau" des in Wien lebenden Dichters und Performance-Künstlers Jopa Jotakin. Die Gedichte kommen faul und geduckt daher, sie schnurren sich "durch das/ glasfaserkabel/ der welt/ davon", um einen beim Lesen im nächsten Moment anzuspringen, mal böse mit Laserkrallen, dann freundlich triumphierend, etwa in der Forderung, ganz Salzburg möge zubetoniert und "an seiner stelle eine riesige interkatzionale installiert/ werden/ eine katzedrale/ oder einfach/ eine riesige/ kratzbaumlandschaft/ und vielleicht/ statt beton/ einfach/ ein bett/ einfach/ zubettoniert/ schnurr". Was sollte, wer schon mal im Internet oder in Salzburg war, dem noch hinzufügen? Philipp Bovermann

Film: "Batang West Side"

Der Schnee ist schmutzig im Winter von Jersey City, und die Kälte kriecht aus allen Bildern in "Batang West Side", 2001, dem ersten Langfilm des philippinischen Filmemachers Lav Diaz (DVD Edition Filmmuseum): fünf Stunden geduldige, aufregende Beobachtung. Ein Junge wurde erschossen, auf der Straße, er war noch nicht lang in Amerika, hat sich in Rauschgift-Deals verstricken lassen. Der Cop Mijares (Joel Torre) sucht den Täter, er ist selbst ein undurchsichtiger Typ, muss sein Gesicht wahren. Es geht Lav Diaz um den flow der Realität, den er in allen großen Werken spürt, von Joyce bis Tarkowski. Nur traumhafte Erinnerungen haben, weil schwarz-weiß, eine gewisse Wärme. Und das Karaoke-Singen (das womöglich auf den Philippinen erfunden wurde). Auch der jugendliche Gangleader ist dabei, er liebt besonders "Because of you", das ultimative Liebeslied. Fritz Göttler

Klassik-CD: Carolin Widmanns "L'Aurore"

Die Klassikwelt hat so etwas wie eine Maßnahme verinnerlicht: Konzertprogramme experimentell durchrütteln, Mixturen historischer Epochen und musikalischer Stile herstellen. Denn ein neues oder wenigstens anderes Hören muss ja sein - Mozart goes Mambo. So hat noch niemand auf einer Solo-Geige derart viele Jahrhunderte Musikgeschichte durchmessen wie die in München geborene Violinistin Carolin Widmann, ihr Bruder Jörg Widmann zählt zu den prominenten Komponisten sogenannter zeitgenössischer Kunstmusik. Solche nicht ganz so leicht zu erobernde und zu hörende "Neue Musik" hat Carolin Widmann zu ihrem bevorzugten Schau- und Spielplatz gemacht, ohne Schubert, Mendelssohn oder Schumann deshalb zu verdrängen. Schließlich ist sie Violin-Professorin an der Musikhochschule zu Leipzig.

Was sie jetzt auf ihrer genau 240 Jahre alten Guadagnini-Geige vorführt, kann aber, bei aller Normalität ehrgeiziger Programmierungen, doch überraschen. Die Komponistin, mit der Widmann ihren Parcours eröffnet, ist Hildegard von Bingen, Jahrgang 1098. Die Benediktinerin, Äbtissin und Naturheilkundlerin aus dem Mittelalter, auch Dichterin und Komponistin, wird bis heute als mystische Prophetin gefeiert. Ihr kurzes Antiphon "Spiritus sanctus vivificans vita" kann im verinnerlichten Spiel der Geigerin betören, die einstimmige Melodie fließt schmucklos dahin, um sich dann aufzuschwingen zum großen Gesang. Vor allem: Die Geigerin spielt die Drei-Minuten-Musik nach drei moderneren Stücken ein zweites Mal, diesmal leicht modifiziert - als ein Ritual, das Lebenshilfe bedeutet: "Das reinigt den Geist, und danach ist man offen für die Musik des ganzen nächsten Jahrtausends."

Wie improvisiert wirkt die Fantaisie concertante von 1932 des noch immer unterschätzten Rumänen George Enescu, die drei filigranen Miniaturen des britischen Messiaen-Schülers George Benjamin, komponiert 2002, glänzen in Carolin Widmanns feiner Schattierungskunst. Die fünfte Sonate des Belgiers Eugène Ysaÿe gibt der ECM-Aufnahme den schönen Titel: "L'Aurore", die Morgenröte. Johann Sebastian Bachs zweite Partita, mit der legendären Ciacona, bekräftigt den Weg einer Violinistin, die der Virtuosität misstraut, nichts leicht nimmt, aber sehr intensiv denken kann. Wolfgang Schreiber

Literatur: Ana Marwans "Wechselkröte"

Sehr selten gibt es einen Text, so klar und schön, dass man traurig wird, dass er kein Bild ist. Man würde ihn gern an die Wand hängen, ständig daran vorbeigehen und sich wundern und ihn bewundern. So einer hat in diesem Juni den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen, die Autorin Ana Marwan war vorher noch nicht sehr bekannt. Ihre Erzählung "Wechselkröte" ist ein Bild von schlagender Symmetrie von pandemischer Einsamkeitsangst und der Angst vor Autonomieverlust einer Frau, die womöglich ein Kind bekommt. Der Salzburger Otto Müller Verlag hat sie jetzt herausgebracht: Zweisprachig auf deutsch und in Marwans Muttersprache Slowenisch übersetzt, gebunden in nachtblaues Leinen, aus dem tiefschwarz die Kröte, bufo variabilis, auftaucht. So wird aus der Geschichte auch ein schöner Gegenstand, fast wie gerahmt. Marie Schmidt

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