Freibeuter
Er hat die Tanzwelt gespalten, zahlreiche Aufreger provoziert und sich jahrelang als "Bad Boy of Ballet" profiliert. Zugleich zog Sergei Polunin bei jedem Auftritt alle Blicke auf sich, auch in München. Dank Staatsballettchef Igor Zelensky tanzte er hier gastweise Repertoireknüller, während er anderswo zeitweise kaum mehr ein Bein auf den Bühnenboden brachte. Zu oft hatte der Starballerino Rundumschläge verteilt, vorzugsweise über Social-Media-Kanäle. Auch das protzige Putin-Tattoo auf seiner Brust warf Fragen auf, die er nie beantwortet hat.
Aber mit nunmehr einunddreißig Jahren zeigt sich das einstige Enfant terrible geläutert: als Künstler, Familienvater, angehender Filmschauspieler und Entrepreneur, der lieber selbst Kasse macht, als die Bilanz anderer Leute aufzuhübschen. Die Häutungen seiner Person verkündet Sergei Polunin jetzt zwischen zwei Buchdeckeln. Seine Autobiografie "Free" erscheint bei books-teneues.com, ist an die dreihundert Seiten stark und auf der ersten Lesestrecke noch mit recht altbackenen Aufführungsfotos illustriert. Attraktiver sind die Werbeaufnahmen, auf denen der Tänzer als Kleiderständer der Luxusklasse posiert. Erstaunlich interessant auch der englischsprachige Text: keine Selbstbeweihräucherung, sondern eine Hommage an Freunde, Förderer und Weggefährten. All diejenigen also, die den strauchelnden Sergei auffingen und immer wieder Triumphe mit ihm feierten. Denn eines blieb über sämtliche Hochs und Tiefs hinweg intakt: Polunins tänzerisches Charisma. Technisch brillant, schlüpft er von "Spartacus" bis "Der Widerspenstigen Zähmung" in hochdramatische Charaktere, reißt sie mit sich fort und lässt sich umgekehrt von ihnen fortreißen. Keine Geringere als Helen Mirren bringt es im Vorwort auf den Punkt: Unter der klassisch veredelten Tanzoberfläche lauert hier rohe Emotion.
Sehnsucht schüttelt schon den Dreizehnjährigen, der 2003 an die Royal Ballet School in London geht - ein Umzug aus der Ukraine, ohne Mutter, ohne Vater. Trotzdem gelingt der kometenhafte Aufstieg an die Spitze des Royal Ballet, gefolgt vom schlagzeilenträchtigen Abschied Richtung Russland, in eine Art Freibeuterexistenz. 2018 hat Polunin sein eigenes Produktionslabel gegründet, 2020 ist er Vater geworden. "Free" endet mit diesem Neuanfang. Es ist bestimmt nur der vorläufig letzte.
Dorion Weickmann
Punkerinnen-Hörspiel
Der erste Punk von Ost-Berlin war den Geschichtsbüchern zufolge eine 15-jährige Köpenickerin namens Britta, die sich ab 1977 "Major" nannte. Zu den Mädchen unter den Punks, die zehn Jahre später in Dresden das Missfallen von Volkspolizei und Vokuhila-Faschisten erregten, gehörte wiederum eine Antje Meichsner, die heute nun fand, dass ihre Erfahrung als Mädchen in der Szene ein bisschen kurz kam, wenn später die Jungs ihre Erinnerungen ans Punkertum in der DDR kundtaten. Das, was sie zu berichten hat, ist nämlich noch ein ganzes Stück heikler: ein Außenseiterdasein bei den Außenseitern, wo dann wirklich alles quer steht, von den Haaren bis zum Begehren. Und weil Meichsner inzwischen akustische Kunst macht, ist nun ein herausragendes Hörspiel daraus geworden, das "Genauso bloß anders" heißt und hoffentlich noch lange in der Mediathek vom Deutschlandfunk steht.
Peter Richter
Shtisel
In Film und Fernsehen ist sehr religiösen Menschen meist nur eine Rolle zugedacht: die des Antagonisten. Sie planen Terroranschläge, zwingen Angehörige zu brutalen Exorzismen oder sind ganz generell diejenigen, von denen sich der Held oder die Heldin lösen muss, um ein freies, modernes Leben als Individuum zu beginnen. In der israelischen Serie Shtisel von 2013 ist das ganz anders. Sie handelt von einer streng chassidischen und sympathisch kauzigen Familie in Jerusalem. Die Frauen tragen Perücke und züchtige Kleidung, die Männer Schläfenlocken und Hut und alle lesen täglich in Thora oder Talmud.
Worum es geht? Letztlich um dasselbe wie in anderen Familienserien auch: um Glück und Unglück in der Liebe, nur ohne vorehelichen Sex, mit Heiratsvermittlern statt Tinder und einer Moral, die so ernst genommen wird, dass das Mädchen Ruchami (Shira Haas, die ihre Hauptrolle in Unorthodox dieser Serie verdankt) aus Wut Plakate drucken lässt, damit das ganze Viertel erfährt, dass ihr Vater untreu gewesen ist und kurzzeitig seine Familie verlassen hatte. Shtisel spielt in einer Welt, die kaum weiter entfernt sein könnte von den säkularen TV-Familien, die man sonst so sieht. Aber weil sie jedes Problem in seiner spezifisch ultraorthodoxen Färbung so ernst nimmt, weil sie so warmherzig und, ja, so witzig ist, gucken auch Menschen gerne zu, die früher Promiskuitätsunterhaltung wie Sex and the City und Girls mochten.
Das Irre ist: Shtisel wurde, kaum konnte man die Serie auf Netflix gucken, schnell weltweit so populär, dass es nun eine dritte Staffel gibt, die eigentlich nie geplant war. Die ist genauso wunderbar wie die ersten zwei und spinnt feinsinnig weiter, was in den Figuren angelegt ist: Der Künstler-Träumer Akiva hat endlich geheiratet, hadert aber weiter mit der Frage, ob er als Maler seinen Individualismus über das Gemeinschaftsgefühl stellen darf. Und Giti, die mit dem untreuen, aber schuldbewusst hundeäugigen Mann, muss ihm mal wieder geschäftlich unter die Arme greifen. Als Lippe es nicht schafft, dekorative chassidische Juden als Statisten für eine Fernsehproduktion zu organisieren (keiner hat Lust), sammeln sie gemeinsam ein paar bärtige Hipster ein und geben sie als Männer Gottes aus. Der Herr, auch das lernt man bei Shtisel, verzeiht einiges.
Kathleen Hildebrand
Wasserklops auf dem Breitscheidplatz
Es gab eine Zeit, da war Berlin sehr klamm, so klamm, dass in den Brunnen kein Wasser floss. Das war ein dramatisches Bild, ist aber auch schon wieder ein paar Jahre her. Jetzt ist Berlin gar nicht mehr klamm, und die Brunnen sprudeln, nur der Weltkugelbrunnen auf dem Breitscheidplatz, genannt "Wasserklops", bleibt trocken. Die Inbetriebnahme an diesem Wochenende fällt aus, er muss gründlicher saniert werden als gedacht und wird erst zur Brunnensaison 2023 wieder einsteigen. Für manchen stellt sich, zugegeben, die Frage, was schlimmer ist: Wasserklops ohne oder Wasserklops mit Wasser. Seit der Errichtung der mit Tieren garnierten, zweigeschossigen Granitlandschaft des Berliner Bildhauers Joachim Schmettau im Jahr 1983 gab es Initiativen, ihn abzureißen. Dabei hat der Brocken am Kurfürstendamm, tief im alten Westen, etwas Östliches, Kosmopolitisches. Solche urbanen Beulen erinnern an den Manegenplatz in Moskau oder an den Maidan in Kiew. Und die sind immer trocken.
Sonja Zekri
Lukas Rüppel
Rex Osterwald ist der perfekte Kandidat. Er trägt so viel Liebe in sich: für Frotteebademäntel, Rutschsocken und die parlamentarische Demokratie. Er versteht die Welt nicht mehr und will wieder Ordnung herstellen. "Ich bitte euch, wenn ihr wählen gehen würdet, das wäre wirklich ganz lieb", sagt Osterwald und stiert in die Kamera. "Rex Osterwald" ist ein Monolog des Dramatikers Michel Decar, der am Münchner Residenztheater digital uraufgeführt wurde (Regie: David Moser). Decar ist Meister der Lakonie und der pedantischen Haarspalterei und Schauspieler Lukas Rüppel der perfekte Pedant für diese Rolle. Über Zoom spielt er einen Wahlkämpfer, der sich a) als Politiker, b) als Mann, c) als Bürger völlig verloren fühlt. Was genau sein Programm ist, ist nun wirklich egal, wichtig ist, dass es so nicht weitergeht wie bisher. Lukas Rüppel fleht, bittet, hyperventiliert und ringt eine Stunde lang herrlichst um Fassung und klammert sich an einstudierte Politikergesten, die doch keinen Halt gewähren. Man mag an Trump denken oder an jüngste Gockeleien um die Kanzlerkandidatur - und daran, dass es in den Seelen einiger vermutlich genauso aussieht.
Christiane Lutz