Favoriten der Woche:Ein Date mit Paula Modersohn-Becker

Favoriten der Woche: It's a Match! Und zwar ein "Art Match": Kunst-Dating in der Kunsthalle Bremen.

It's a Match! Und zwar ein "Art Match": Kunst-Dating in der Kunsthalle Bremen.

(Foto: Marcus Meyer Photography)

Eine App ertindert die perfekten Kunstwerke. Diese und weitere Empfehlungen aus dem SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Tinder für Kunstwerke - das klingt erst einmal sehr kurios und nach genauerer Betrachtung dann sehr lustig. Die App "It's an Art Match" der Kunsthalle Bremen funktioniert wie eine Dating-App und soll vor allem jüngere, nicht museumsaffine Menschen erreichen. Für ein Match mit Paula Modersohn-Becker oder Edvard Munch müssen die Besucher erst ein Profil erstellen und kurze Fragen beantworten ("Magst du es lieber bunt oder einfarbig?" "Chaotisch oder ordentlich?" "Bist du Stadt- oder Landmensch?"), dann schlägt die App 15 Treffer vor - alles Kunstwerke aus dem Museum. Dazu gibt es Informationen zu Werk und Künstler und auch eine Wegbeschreibung, wo sich das Date in der Dauerausstellung genau befindet. Ähnlich wie im echten Leben wird es aber auch nicht bei allen Matches funken - etwa dann, wenn das passende Kunstwerk gerade an ein anderes Museum ausgeliehen ist. Dann heißt es weitertindern, bis der oder die Richtige dabei ist. Johanna Müller

Reaktion als Kunstform: Essay von William Davies

In den sozialen Medien erfährt man ja meistens nur deshalb von einem Ereignis, weil es Reaktionen ausgelöst hat, auf die wiederum so reagiert wurde, dass weitere Reaktionen folgten und immer so weiter - bis einen die Kette irgendwann auch selbst erreicht und man dann stets verspätet anfängt, das Gespräch gewissermaßen rückwärts zu lesen. In der neuen Ausgabe der London Review of Books hat der Gesellschaftstheoretiker William Davies jetzt eine Analyse dieser "reaction economy" formuliert, die für das Verständnis der digitalen Öffentlichkeit noch lange unverzichtbar sein wird.

Seine Beobachtung lautet, dass die Reaktion in den sozialen Medien von der bloßen Ausdrucksform zum Ereignis selbst geworden ist. Auf Twitch gibt es Kanäle, auf denen ausschließlich Leute zu sehen sind, die anderen Leuten beim Computerspielen zusehen. Das "reaction video" ist längst ein eingeführtes Genre, Leute filmen sich, wie sie auf Spiele, Songs, Filme reagieren. In der politischen Kommunikation gilt: Wer die Kunst der engagement-treibenden Reaktion beherrscht, hat eine große Karriere vor sich. Trump, Farage, Wagenknecht.

Favoriten der Woche: Die Ausgabe der "London Review of Books" mit dem Essay von William Davies.

Die Ausgabe der "London Review of Books" mit dem Essay von William Davies.

(Foto: LRB)

Dass es ausgerechnet vor allem die Reaktionären sind, die dieses Handwerk so virtuos beherrschen, ist laut Davies nicht nur etymologisch kein Zufall. Seinen Ursprung habe der Reaktionär wie so vieles in der Französischen Revolution. Wo klassische Konservative eine soziale Ordnung bewahren wollen, sieht der Reaktionär die Welt schon rettungslos verdorben, weshalb alles gründlich abgeschafft gehört, was ihr Stabilität verleiht. Eine Haltung, die erst durch das Aufkommen einer organisierten Linken möglich wird und folglich nur denkbar ist als Reaktion auf deren Erfolge.

Im Nebel der Reaktionen gehe allerdings der Sinn dafür verloren, was ihnen eigentlich vorangehen sollte: die genuine, spontane, unberechenbare, individualistische Aktion, wie Hannah Arendt sie in "Vita activa" beschrieben hat. Theoretisch seien Spontaneität und Individualität heute hohe Güter, schreibt Davies, tatsächlich aber wüchsen Jugendlichen im Bewusstsein permanenter Überwachung und unter dem Diktat einer Reaktionskultur auf, die abweichendes Verhalten so unbarmherzig sanktioniere, wie es zuletzt im viktorianischen Zeitalter zu beobachten war. Kleinste Fehltritte können in wochenlangen Psychoterror münden. Die Bedingung für Freiheit aber, so wieder Arendt, sei Vergebung. Digitale Plattformen jedoch seien Maschinen, schreibt Davies, die darauf angelegt seien, Vergebung möglichst zu unterbinden. Felix Stephan

Immense Intensität: Franz Schrekers "Der ferne Klang"

Favoriten der Woche: Franz Schreker, Christoph Eschenbach: Der ferne Klang, gespielt vom Konzerthausorchester Berlin, Deutsche Grammophon 2023.

Franz Schreker, Christoph Eschenbach: Der ferne Klang, gespielt vom Konzerthausorchester Berlin, Deutsche Grammophon 2023.

(Foto: Deutsche Grammophon)

Stilistisch ist dieser Komponist nicht leicht einzuordnen, manchmal klingt Paul Hindemith herüber oder Richard Strauss, aber nie so, dass man den Eindruck eines gepflegten Eklektizismus hat, im Gegenteil. Der Komponist Franz Schreker, 1878 in Monaco geboren und 1934 in Berlin gestorben, verfügte über eine enorme Bandbreite. Die spätromantische Klangfülle mit symbolistischem Einschlag war ihm ebenso nah wie expressionistische Gestaltungsmittel oder neue Sachlichkeit. Gleichzeitig behielt er stets ein Faible für einen modernen Mystizismus der Klangsprache.

Diese Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten spiegelt auch das vielfältig schillernde Musikleben Deutschlands in den 1920er-Jahren wider. Schreker war einer ihrer wichtigsten Protagonisten, seine Opern konkurrierten erfolgreich mit denen von Richard Strauss, seine akademische Karriere als Musikschriftsteller und Pädagoge war ebenso glänzend, gipfelte in der Direktorenposition der Berliner Musikhochschule. Und endete für den Sohn eines jüdischen Fotografen und einer Mutter aus altsteirischem Adel auch dort, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Heute kennt man von Schreker vor allem die Oper über einen Komponisten auf der Suche nach der perfekten Tonsprache: "Der ferne Klang". So heißt auch das Doppelalbum (Deutsche Grammophon) mit einer imposanten Werkauswahl des Komponisten, zum einen Teil Symphonisches, zum anderen Werke mit Singstimme.

Christoph Eschenbach dirigiert das Berliner Konzerthausorchester, und man hat durchweg den Eindruck, dass alle Beteiligten die Einspielung als ihr persönliches Projekt betrachten, für das keine Anstrengung zu gering ist. Nur so kann jene Intensität des Orchesterklangs entstehen, der für Schrekers Musik unabdingbar ist. Die Strenge des Ausdrucks, die sich nach außen in scheinbarer Leichtigkeit zeigt, bietet die wirksame dialektische Grundlage. Die Sopranistin Chen Reiss, aber auch der Bariton Matthias Goerne in "Fünf Gesänge" nach Texten aus Tausendundeiner Nacht, wirken zwar manchmal sehr im Vordergrund, zu direkt, finden im Verlauf aber doch zu jenem eigentümlichen, so besonderen Schreker-Sound, der so viel erzählt und noch mehr verschweigt. Schrekers Musik ist immer Tausendundeine Nacht. Helmut Mauró

90 Jahre Moka Express: Ein hellwacher Geburtstag

Vermutlich war Alfonso Bialetti es leid, jeden Tag, jede Stunde für einen caffè in die Bar zu laufen. Also dachte er sich 1933 die Moka Express aus, eine Kaffeekanne für zu Hause. Mit dem achteckigen Kessel aus Aluminium und dem elegant geschwungenen, schwarzen Griff ist die Moka Express schlicht und funktional zugleich. Und fehlt in kaum einem (italienischen) Haushalt. Das Männchen mit Schnauzbart, das manche Kannen ziert, ist Alfonsos Sohn Renato nachempfunden, der die Idee seines Vaters patentieren ließ und die Moka Express zu einem italienischen Exportschlager machte. Mehr als 300 Millionen Mal soll sie sich inzwischen verkauft haben, es gibt Versionen mit der Trikolore und von Dolce & Gabbana. Zwar schmeckt er wegen des niedrigeren Drucks nicht ganz so wie in der Bar, aber das röchelnde Zischen, wenn der Kaffee langsam aus dem Röhrchen hochsprudelt, gibt es nur zu Hause (und hier zum Anhören). Darauf eine Moka! Carolin Gasteiger

Rock-Klischees ausdribbeln: "The Hold Steady"

Favoriten der Woche: "The Price of Progress" von "The Hold Steady".

"The Price of Progress" von "The Hold Steady".

(Foto: Positive Jams)

Allein der Opener, "Grand Junction": geachtelte, cowboy-gestiefelte Gitarren, Rumpel-Krachbumm-Schlagzeug-Fill und dann aber eben genau nicht Wüstenrock-Ausbruch oder Breitbein-Pose, sondern erst mal ein glitzrig quäkender Synthie. Feines Schwelgen in der Strophe, die Bridge macht enorm weit auf, vehementer Lichteinfall, sehr leicht alles und sehr schön, und von da geht das ganz ähnlich weiter auf "The Price of Progress" (Positive Jams), dem neuen Album von The Hold Steady, diesen so wunderbar empathischen Geschichtenerzählern aus Minneapolis. Dieser musikalisch so herrlichen Mogelpackung - im ersten Moment wahnsinnig zentralamerikanisch im Sound, und dann schlägt die Musik aber eben immer Haken, trickst, dribbelt aus, verstolpert, fängt sich, entkommt der ersten Rock-Idee. Und auf dem neuen Werk all das noch etwas mehr als sonst. Fantastisch. Jakob Biazza

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