Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Woche:"Biete Violine, suche Heizplatte"

Ein Radiofeature stöbert in den Kleinanzeigen der "Süddeutschen Zeitung" von 1945. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Radiofeature: Kleinanzeigen aus der Nachkriegszeit

Englisch müsste man können. Jetzt, wo man es mit den Amerikanern zu tun hat. Aber es war ja all die Jahre alles Angloamerikanische verpönt (Jazz und Soul), unzugänglich (Hollywood-Filme im Original) oder bei schwerer Strafe verboten (sogenannte Feindsender wie die BBC). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist im amerikanisch besetzten Sektor die Nachfrage nach Englischunterricht entsprechend groß, mit den Amerikanern lassen sich Geschäfte machen - und bald gibt es auch ein Angebot. Lehrer und Schüler müssen nur noch zueinander finden. Doch wofür gibt es Kleinanzeigen? Die ersten Ausgaben der Süddeutschen Zeitung im Herbst 1945 umfassten in der Regel sechs Seiten, mindestens eine halbe Seite war für solche Annoncen reserviert: "Biete Pumps, suche Schuhe", lautete eine. In einer anderen wurde "dringend" eine Erstausgabe von "Mein Kampf" gesucht, "aus bibliophilen Gründen".

Henrike Leonhardt hat 2005 für ihr Radiofeature "Biete Violine, suche Heizplatte - Kleinanzeigen in den ersten Süddeutschen Zeitungen 1945" in diesen historischen Ausgaben gestöbert. Nun wurde die Sendung wiederholt und ist deshalb auch in der ARD Audiothek wieder zugänglich. Es ist eine Münchner Sozialgeschichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, weil sich in Kleinanzeigen der Alltag der Menschen spiegelt. Leonhardt nimmt dafür nicht nur gedruckte Annoncen ins Visier, sondern auch die vielen Zettel, die in der Stadt aushingen und die zum Teil dokumentiert sind. Sogar nach liegengelassenen schadhaften Regenschirmen wurde gefahndet, so groß war teils die Not. Für ein paar Winterstiefel waren Menschen bereit, Goldschmuck zu tauschen. Überhaupt wurde viel mehr getauscht als gegen bares Geld verkauft in diesen Wochen. Weil auch das Mangelware war.

Das gilt sogar für Männer. Viele waren im Krieg gefallen, auf zehn Frauen kamen acht Männer. Entsprechende Ansprüche stellten Letztere in Heiratsannoncen: Zuschriften waren mitunter nur erwünscht, wenn die Möglichkeit bestand, in ein Geschäft oder eine Landwirtschaft einzuheiraten. Und weil nicht alle in derselben prekären Lebenssituation waren, gab es bald schon erste Annoncen, die für Theater-, Kino- und Zirkusbesuche warben. Stefan Fischer

Kinderfilm: "Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd"

"Was ist das Tapferste, das du je gesagt hast?", fragte der Junge. "Hilfe", sagte das Pferd. "Du gibst nicht auf, wenn du um Hilfe bittest. Du weigerst dich aufzugeben." Ein Junge und ein Maulwurf, die sich beide verloren und von der Welt im Stich gelassen fühlen, begegnen sich. Ein Fuchs und ein Pferd schließen sich ihnen an. Zusammen machen sie sich auf die Suche nach dem Zuhause des Jungen. Unterwegs führen sie viele kluge Gespräche über das Verzeihen, über Freundlichkeit und über Kuchen - um am Ziel ihres Weges festzustellen, dass Zuhause nicht immer ein Ort ist. Apple+ hat eine halbstündige Verfilmung des erfolgreichen Kinderbuches "Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd" von Charlie Mackesy veröffentlicht. Geistreich und herzerwärmend geschrieben und mit einer schönen, an Wasserfarben erinnernden Ästhetik gezeichnet, ist ein atemberaubend atmosphärischer Film für Kinder von 9 bis 99 Jahren entstanden. Philipp Riessenberger

Schauspiel: Pedro Pascal

In Hollywood hat derzeit fast kein Schauspieler so einen Lauf wie Pedro Pascal. Der gebürtige Chilene ist aktuell in der HBO-Produktion "The Last of Us" zu sehen. Die Videospielverfilmung ist die perfekte Horrorserie fürs postpandemische Zeitalter und Pascal ihr desillusionierter Held, der sich nach einem schweren Verlust durch ein von einer Pilzepidemie zerstörtes Amerika kämpft. Der 47-Jährige begann klein beim Fernsehen und wurde erst Jahre später durch seine Rollen in "Game of Thrones" und "Narcos" berühmt. Mittlerweile ist er auch oft im Kino zu sehen, aber Serien bleiben sein Hauptgeschäft. Neben "The Last of Us" spielt er bei Disney+ in der "Star Wars"-Serie "The Mandalorian" die Hauptrolle. Zwei Serienhits gleichzeitig, in zwei völlig unterschiedlichen Universen, das schafft in Hollywood kaum jemand. David Steinitz

Belletristik: "Der Aufgang" von Stefan Hertmans

Deutschland hat zweimal tief in die Geschichte Belgiens eingegriffen. Erst durch den völkerrechtswidrigen Angriff auf das neutrale Land im August 1914 - es folgten vier Kriegsjahre, die Teile Belgiens in eine blutige Schlammwüste verwandelten; dann im Zweiten Weltkrieg mit einem noch brutaleren Besatzungsregime, dem ein Großteil der belgischen Juden zum Opfer fiel. Folter und Mord gehörten damals für die gesamte Zivilbevölkerung zum Alltag.

Dazu kam als generationenlang vergiftendes Erbe die Befeuerung des innerbelgischen Nationalitätenkonflikts zwischen französischsprachigen und niederländischen Belgiern, Wallonen und Flamen. Die Deutschen machten sich 1914 und 1940 die Anliegen der "germanischen" Flamen zu eigen, gewannen Kollaborateure und arbeiteten an der Spaltung des Landes. Diese Geschichte hat der belgisch-flämische Romancier Stefan Hertmans in einem erzählerisch brillanten Roman verarbeitet ("Der Aufgang", Diogenes Verlag). Sein Kern ist die Geschichte des flämischen Kollaborateurs und SS-Manns Willem Verhulst (1898 bis 1975) und seiner Familie. Der titelgebende "Aufgang" beschreibt die Besichtigung des alten Hauses in Gent, das Verhulst und die Seinen jahrzehntelang bewohnten. 1979 kaufte es Hertmans, ohne von seiner Geschichte zu wissen. Erst im Rückblick wird der Rundgang vom Keller bis zum Dach zu einer Zeitreise in die Geschichte, die Zimmer für Zimmer neue Tragödien enthüllt.

Der Reichtum an verstörender und widersprüchlicher historischer Erfahrung, der dabei zur Sprache kommt, ist atemberaubend. Die Ehefrau von Verhulst war eine niederländische Protestantin, puritanisch und antinationalsozialistisch. Seine erste Liebe und Frau aber war eine deutsche Jüdin gewesen, bei der er auch begraben werden wollte. Sein Sohn wurde ein linksliberaler Historiker - Hertmans Lehrer. Verhulst führte die Listen des Widerstands, dessen Vertreter denunziert, verhaftet und gefoltert wurden. 1945 floh er mit der Wehrmacht nach Deutschland, wurde gefasst und zum Tod verurteilt, aber begnadigt und 1953 entlassen. Am alten Ort, im Genter Haus, lebte und arbeitete er weiter. Ein großes, erschütterndes Buch, eine Geschichte, die uns Deutsche angeht: Belgien leidet an diesen Wunden bis heute. Gustav Seibt

Kino aus Indonesien: "After the Curfew"

Der Heimkehrer ist eine einsame Kinofigur der Nachkriegszeit, wir kennen sie vor allem aus deutschen Filmen. Auch Iskander kehrt heim, nach Bandung, im Film "Lewat djam malam/After the Curfew", 1954, vom Filmemacher Usmar Ismail, er kommt aus dem indonesischen Kampf um die Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialherrschaft. Die Schwarz-Weiß-Bilder des Films haben schneidende Konturen, ab zehn gilt in der Stadt eine Ausgangssperre, und man weiß von Anfang an, er wird sich in die neue Gesellschaft nicht einfügen können, unter deren Großbürgern und Spekulanten. Die Träume gibt natürlich der Westen vor, eine Prostituierte schneidet sich die entsprechenden Fotos aus dem Magazin Life. "After the Curfew" gibt es, frisch restauriert, auf der zweiten DVD von Martin Scorseses World Cinema Project (bei Trigon), zusammen mit "Alyam, Alyam" von Ahmed El Maanouni, Marokko 1978, und "Muna Moto" von Pierre Dikongué-Pipa, Kamerun 1975. Fritz Göttler

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