Süddeutsche Zeitung

Fast alle Briefe von Paul Celan:Schatten der Verfolgung

"Ich sagte Ihnen schon, wie einsam wir sind": Eine voluminöse, aber keineswegs umfassende Edition der Briefe Paul Celans von 1934 bis 1970 versucht, eine heimliche Biografie des Dichters zu sein.

Von Helmut Böttiger

Es kam alles auf die Briefe an. Hier wurde das verhandelt, was einen im Innersten umtrieb, manchmal spontan, meistens aber hoch konzentriert. Die Epoche des Briefeschreibens ging sogar noch ein wenig über den Zeitraum hinaus, in dem ein herausragender Lyriker wie Paul Celan sich maßgeblich in dieser Form ausdrückte. Die Zahl der Briefeditionen Celans ist mittlerweile kaum noch überschaubar. In den letzten Jahren schien es, als würde fast jede Notiz und jedes Schreiben des Dichters aus dem Nachlass publiziert werden. So differenzierte sich allmählich das Bild jenes lange Zeit fast mythisch erscheinenden Celan aus, von dessen näheren Lebensumständen man in den ersten Jahrzehnten nach seinem Freitod 1970 kaum etwas gewusst hatte. Je mehr man über ihn erfuhr, desto rätselhafter schien er allerdings auch wieder zu werden. Wenn jetzt ein Band mit 1286 Seiten erscheint, der sich "Briefe 1934-1970" nennt, ist man überrascht: Sollte das jetzt wirklich ein Schlusswort sein?

Nicht alle der 691 hier abgedruckten Briefe Celans sind neu. 330 davon werden als "Erstdrucke" ausgewiesen (was nicht auf alle zutrifft!), der Rest ist zum Teil an vergleichsweise entlegenen Orten bereits publiziert, zu einem anderen Teil wurde er aber auch schon in den zahlreichen Ausgaben der letzten Jahre veröffentlicht. Dass die Herausgeberin Barbara Wiedemann vieles noch einmal nachdruckt, liegt an ihrem Vorhaben, anlässlich seines 100. Geburtstags 2020 eine Biografie Celans anhand seiner Briefe vorzulegen.

Immer klarer wird, dass Celan weitaus widersprüchlicher war, als es sein öffentliches Bild nahelegt. Zärtlichen Liebesbekundungen an seine Frau stehen viele intime Affären unterschiedlichen Charakters gegenüber. Und Celans Judentum war eindeutig nicht religiös oder mystisch geprägt, es bezog sich auf konkrete zeitgeschichtliche Erfahrungen.

Zu den aufschlussreichen, bisher schwer zugänglichen Briefen gehört zum Beispiel einer an Inge Waern, einer jungen Freundin von Nelly Sachs. Hier wird Celans oft unterschätzter Gegensatz zu der von ihm lange als jüdische "Schwester" bewunderten Lyrikerin deutlich. Nelly Sachs versuchte in ihren Gedichten, trotz aller Katastrophen eine ursprüngliche Einheit der göttlichen Schöpfung wiederzufinden. Celan hingegen spricht als ein sich historisch verortender Einzelner, der ins Zentrum des Schmerzes zielt. Celan schreibt an Inge Waern in einem Moment, als Nelly Sachs' Verfolgungserfahrung wieder virulent wird und sie in Paranoia verfällt. Man merkt in diesen bewegenden Zeilen, wie sehr ihn das angeht und was er für sich selbst dagegen zu setzen versucht: "Was Nelly jetzt begegnet, ist (...) keineswegs als etwas durch irgendwelche 'Eingriffe' wieder aus ihrem Leben Entfernbares zu denken; es ist, in gesteigerter Form, die Aktualisierung einer Wirklichkeit, mit der sie Jahre und Jahre hindurch gelebt hat (...)." Und er glaubt, "dass nur dann wirklich geholfen werden kann, wenn man den Zustand, in dem Nelly sich befindet, als etwas zu ihr und nur zu ihr - als Person - Gehörendes ansieht und nicht als diese oder jene 'geistige Krankheit'".

Celans Nähe zu Heideggers Dichtungsverständnis ist kein Zufall

Frühe Prägungen durch die Lyrik Georges, Trakls und vor allem Rilkes treten in der Korrespondenz immer wieder zutage und zeigen, wie sehr sich Celan dadurch von seinen deutschen Generationsgenossen unterschied. Seine lyrische Sprache ist nicht erst durch die Erfahrung des Massenmords an den Juden entstanden, sondern sie hat tiefe Wurzeln, deren Bedeutung wegen der allgemeinen Fixierung auf ein Gedicht wie die "Todesfuge" oft vernachlässigt wurde. Celans Nähe zu Heideggers Dichtungsverständnis ist kein Zufall. Was er 1962 enttäuscht an seine rumänische Kollegin Nina Cassian schrieb, weist auf einen Konflikt, der im Umfeld der Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik eine ungeahnte Dimension hatte: "Ich glaubte viel zu lange, dass es in Deutschland eine neue 'Elite' gibt (...)."

Auf der anderen Seite begriff sich Celan, und das ergab ein ungewöhnliches Spannungsfeld, selbstverständlich als einen "Linken" - allerdings in einem Sinn, der sich von der in der Bundesrepublik entstehenden Opposition erheblich unterschied. Die Herausgeberin zieht zwar Bekenntnisse wie dasjenige, wonach Celan "ein altes Kommunistenherz" habe, nicht heran, ebenso wenig wie einige Dokumente seiner affektiven Gleichsetzung von Linksradikalismus und Erotik - die abgedruckten Briefe an Gisela Dischner geben das nicht adäquat wieder.

Dennoch wird deutlich, wie fremd Celans östlich geprägter Anarchismus, gepaart mit einem kulturbürgerlich-libertären Sozialismusbegriff, in den zeitgenössischen Debatten der Bundesrepublik wirken musste. Erhellend sind die Briefe, die Celan in direktem Kontakt mit dem Literaturbetrieb zeigen, mit Verlagslektoren und Kollegen. Er fühlte sich nur in den allerseltensten Fällen wirklich "verstanden" und kündigte eruptiv viele Freundschaften auf, der weiterwirkende Antisemitismus wie auch die ernüchternden Mechanismen des Mediengewerbes wirkten dabei auf tragische Weise zusammen.

Die bisher unbekannten Briefe Celans bergen einige Entdeckungen, ihre Edition an sich ist äußerst verdienstvoll. Die Herausgeberin hat es allerdings nicht bei diesen Dokumenten belassen, sondern überführt sie in ihr Konzept einer heimlichen Biografie: "Paul Celan - ein Leben in Briefen" überschreibt sie ihr Nachwort. Aus den bereits edierten Briefen wählt sie diejenigen aus, die ihr passend erscheinen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Problem. Die Kriterien, welche Briefe sie heranzieht und welche nicht, haben etwas Willkürliches und sind bei aller Subjektivität auch fragwürdig.

Wie ist Celans Freundschaft mit dem Partisanenbekämpfer Rolf Schroers zu erklären?

So legt sie auffallenden Wert darauf, dass nicht Ingeborg Bachmann, sondern Erica Lillegg die ersten Liebesbriefe erhielt, die Celan nach seiner Ankunft in Paris nach Wien schrieb. Das gebe Anlass dafür, "die Gewichtungen in den einzelnen Liebesbeziehungen im Leben Celans zu relativieren". Die spezifische Dynamik des Verhältnisses zwischen Bachmann und Celan wird dabei erheblich unterschätzt.

Die Darstellung der Herausgeberin von Rolf Schroers, der als ehemaliger Oberstleutnant der "Abwehr" die Partisanenbekämpfung in Italien befehligte und nach Kriegsende nahtlos beim "Verfassungsschutz" weiterbeschäftigt wurde, wirkt ebenfalls merkwürdig. Wie ist die Freundschaft Celans mit jemandem zu erklären, der Carl Schmitt und Ernst Jünger rückhaltlos bewunderte und sich als verkannter, "von der Meute gehöhnter" Dichter mit Celan gleichsetzte? Diese Fragen gehören zu den spannendsten überhaupt, wenn man sich Celan nähert - Wiedemann stellt sie gar nicht erst, weil sie darin kein Thema zu erkennen scheint.

Dazu kommt, dass man zumindest bei einigen bisher unbekannten Briefen Paul Celans die Gegenbriefe vermisst. Seine Liebesbeziehung zu Inge Waern beispielsweise wird hier erstmals dokumentiert und war immerhin so bedeutsam, dass Celan 1964 ernsthaft eine Übersiedelung nach Westberlin erwog; das wird hier sicher zu knapp abgehandelt.

Insgesamt wäre es wohl eine seriösere Lösung gewesen, sich auf eine umfassende Edition der bisher unbekannten Briefe Celans zu beschränken und auf die eher feuilletonistische Idee einer rhapsodischen Biografie in Briefen zu verzichten. Wie schrieb doch Celan an den ihm künstlerisch verwandten DDR-Lyriker Erich Arendt: "Ich sagte Ihnen schon, wie einsam wir sind; wir sind es auch mit unseren Vorstellungen vom Arbeiten und Leben."

Paul Celan: "Etwas ganz und gar Persönliches". Briefe 1934-1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 1286 Seiten, 78 Euro.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2020
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