Familiengeschichte:Sehr interessante Broschüren über die Familie Mann

Tilmann Lahme schreibt eine Chronik der amazing family, die viel litt und alles über sich wusste.

Von Gustav Seibt

Vor der Beerdigung seines Vaters brauchte Golo Mann Morphium. Zur Erschütterung habe beigetragen, dass er sah, was er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte: "Die Mutter weint." So erklärt es Tilmann Lahme mit der stoischen Lakonie, die sein Stoff ihn gelehrt hat. Lahme erzählt die Geschichte der Familie von Thomas Mann, der Eltern und ihrer sechs Kinder, in der Form einer von Jahr zu Jahr voranschreitenden Chronik. Diese archaische Erzählform hat den Reiz, dass sie die ausgewählten Tatsachen zunächst für sich sprechen lässt. Die Zusammenhänge kumulieren sich Schritt für Schritt im Kopf des Lesers - teilweise ins Ungeheuerliche, auch Selbstmorde haben lange Vorläufe.

Wer es bis zu Erika Manns Morphiumgabe an ihren überforderten Bruder geschafft hat, der hat das Muster schon verinnerlicht: Gefühle sind in dieser Familie eine Gefahr, zu bedrohlich erscheint der Kontrollverlust. Was umgekehrt bedeutet: Es gibt diese Gefühle. Überforderungen werden aber kühl gemanagt, und sei es mit chemischen Mitteln. Noch im hohen Alter tauschten Golo und Michael Mann sich über die Tabletten aus, die sie vor jedem öffentlichen Auftritt einnahmen.

Klaus Mann brauchte Drogen fürs Schreiben und beim Sex, Erika, um ihre gigantischen Vortragsreisen durch die USA während des Zweiten Weltkriegs durchzuhalten. Auch der Vater nahm bekanntlich "Heiterlis", bevor er an seine prominenten Pulte trat. Dass Katia ihren ältesten Sohn schon früh vor dem "kleinbürgerlichen Laster" der Drogensucht warnte, wirkt fast komisch. Die Mutter hatte gut reden, zu Tränen scheint sie ja nicht geneigt zu haben.

Dereinst würden "sehr interessante Broschüren über die Familie Mann geschrieben werden", prophezeite Klaus 1933, unmittelbar nach dem Beginn der Emigration aus Deutschland. Nun, diese Broschüren gab es damals schon, sie kamen direkt aus der Familie. In der Novelle "Unordnung und frühes Leid" hatte Thomas Mann ein erbarmungslos humoristisches Bild seiner Kinder gegeben, ein "Novellenverbrechen", das Klaus bald mit rücksichtslos offenen Gegengeschichten beantwortete. Doch als er fünfzehn Jahre später nach einem ungewohnt anerkennenden Brief des Vaters darauf noch einmal zurückkommen wollte, blieb der Briefentwurf liegen. Eine Aussprache fand nicht statt.

War sie überhaupt nötig? Schließlich ließ Thomas Manns Goethe-Roman "Lotte in Weimar" ein hinreichendes Verständnis für die Nöte von Geniekindern erkennen. Er habe Goethes Sohn August, so Lahme, auch mit den Charakterzügen seiner eigenen drei Söhne versehen: "Die alkoholischen Exzesse erinnern an Michael, die Flatterhaftigkeit an Klaus, das Unliebenswürdige, Ungeschickte an Golo."

Tilmann Lahmes Chronik versetzt die Fakten, die zu großen Teilen trotz neuer verdienstvoller Archivstudien gut bekannt sind, zurück in einen interpretatorischen Urzustand, in dem sie wieder schockieren können. Den Ablauf der Jahre, die Nöte einer Familie, das kennt jeder; diese Naturkoordinaten erlauben es zu vergleichen und das Besondere zu erkennen. Das Besondere dieser Familie ist: Sie hat tatsächlich so etwas wie eine "Verfassung", um Thomas Manns frühes Wort nach seiner Eheschließung aufzugreifen.

Diese Verfassung beruht zunächst auf Triebregulierung und Gefühlsmanagement, Zeitregime und Ordnungspolitik im Dienst des Familienoberhaupts und seiner Kunst. Wenn dessen Bedürfnisse, vor allem zur Aufrechterhaltung kategorischer Arbeitsaskese, gesichert sind, bleibt genügend Freiraum für erstaunliche Großzügigkeit, die allerdings oft kaum von splendider Gleichgültigkeit zu unterscheiden ist. Homosexualität, zu Thomas Manns Lebzeiten sowohl in Deutschland wie in Amerika ein Straftatbestand, wird fast achselzuckend in die "Dezenz" des Familienlebens eingepasst, gelegentliche Psychiaterbesuche inbegriffen. Dazu gehörte eine beträchtliche Fähigkeit, das Konstrukt nüchtern zu sehen und zu beschreiben. Das ist tatsächlich ein bemerkenswertes Beispiel für Bürgerlichkeit, allerdings eins, das weit jenseits von Nachahmbarkeit liegt.

Historisch bedeutsam wurde die idiosynkratische Mannsche Familienkonstellation in der politischen Emigration. Hier verwandelte sich der künstlerische Haushalt zu jener von Harold Nicolson bewunderten "amazing family", die auf zwei Kontinenten den Kampf gegen Hitler, gegen den Ungeist des eigenen Landes aufnahm.

Diese Metamorphose bringt Lahmes Erzählform zu neuer wuchtiger Anschauung, denn im Verlauf der Jahre sieht man, wie schmerzhaft und mühsam sie war. Golo Mann beschrieb seinen Vater in den ersten Exiljahren als "geköpfte Wespe". Lahme zitiert es, und er bringt das hilflose Zucken zur Anschauung.

Um die Leistung des geschmeidig geschriebenen, ein überreiches Quellenmaterial brillant bewirtschaftenden, auf der Oberfläche witzigen, im Untergrund tieftraurigen Buches gerecht zu würdigen, muss man auf seine selbstgesetzten Grenzen verweisen. Es behandelt allein die Familie von Thomas und Katia Mann, und zwar von dem Moment an, in dem sie vollzählig ist, also seit 1922. Die Frühgeschichte, Heinrich Mann und der Bruderzwist bleiben so gut wie ausgespart.

Die chronikalische, an den historisch-politischen Verlauf gebundene Form, deren Stärken Lahme wunderbar ausspielt, erlaubt eine hier wohltuende Zurückhaltung gegenüber den eigentlichen Werken seiner Helden.

Von Thomas Manns erst zögerlicher, dann eifernder Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland erfährt man also viel; nichts dagegen von dem parallelen geistigen Unternehmen, nämlich in den Josephs-Romanen einen antifaschistischen Mythos-Begriff zu schaffen. Der Leser wird nicht mit summarischen Kurzinterpretationen gelangweilt, die in so vielen Dichterbiographien als germanistische Schlacke herumschwimmen.

Insofern machen sich die beiden Bücher zur Familie Mann, die in diesem Jahr erschienen sind, das von Lahme und das von Matthias Flügge ("Das Jahrhundert der Manns", Aufbau Verlag, SZ vom 13. Juli) auch keine Konkurrenz. Flügges Buch ist weitergespannt, es setzt früher ein und behandelt Heinrich Mann mit, in der Anlage ist mehr auf die Individualitäten konzentriert und daher, auch in seinen Werkeinschätzungen, deutlich konventioneller. Doch kann es neben Lahmes literarisch überlegenem Buch gut bestehen - der Aficionado sollte beide haben.

Sie waren wohlhabend, aber oft genug reichte es trotzdem nicht, vor allem im Exil

Lahme behandelt die Schriften der Familie als Lebenstatsachen. Klaus schreibt sorglos und geschwind, erst am Ende stockt ihm der Fluss. Diese Sorglosigkeit wirkt im Kontrast zum bosselnden Vater programmatisch.

Erika ist eine reine Gebrauchsschriftstellerin, die vor allem bei politisch erhitzten Anlässen blühende Fantasie an die Stelle von Recherche treten lässt. Monikas eher trostlose Schreibversuche lässt Lahme in verhältnismäßig langen Zitaten für sich sprechen und erspart sich damit, dem Mobbing der Familie gegen "das Mönle" ein objektives Urteil oder einen sinnlosen Widerspruch hinterherzuschicken. Golos Lebensleistung, der Metierwechsel in die Geschichtswissenschaft, die Gründlichkeit seiner Produktion, wirkt vor der familiären Kulisse noch imposanter. Wer die vielen Zitate zur Politik aus der ganzen Familie gelesen hat, muss ohnehin erkennen: Golo war der einzige, der auf diesem Gebiet bei Trost war.

Da die "amazing family" immer auf den Höhen der Gesellschaft, der literarischen ohnehin, aber oft auch der politischen, zudem im hellen Licht der Presseöffentlichkeit lebte, flackert die Weltgeschichte unentwegt hinein. Ebenso interessant sind die von Lahme immer wieder präzise dargestellten Geldverhältnisse. Die Manns waren wohlhabend, aber oft genug reichte es trotzdem nicht, vor allem im Exil. Sechs stellungslose Kinder, Bedarf an luxuriösen Lebensumständen, das wollte finanziert sein. Amerikanisches Mäzenatentum wird wie selbstverständlich entgegengenommen, allerdings mit Unmut über "Reichenfrechheit", nämlich wenn kleinere Erkenntlichkeiten erwartet werden.

"Einseitigkeit der Themen, bei größtem Reichtum der Ausführung", diagnostizierte Golo 1933 bei seinem Vater. Da ist was dran. Bei Tilmann Lahme erscheint es so: Maximaler Glanz durch höchste Anstrengung. Als Erzählstoff ist das großartig, als Leben muss es furchtbar gewesen sein.

Tilmann Lahme: Die Manns. Geschichte einer Familie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 480 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 22,99 Euro.

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