Familienbetriebe nach 1945:Unter Mördern und Irren

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Die Villa Hügel war lange Zeit das Zentrum der Industriellenfamilie Krupp. (Foto: Schöning/imago)

Champagner, Prunk und Frivolitäten: Eva Sichelschmidts doppelbödiger Roman "Bis wieder einer weint" über die noch junge alte Bundesrepublik.

Von Felix Stephan

Eva Sichelschmidts Roman "Bis wieder einer weint" erzählt von zwei westdeutschen Frauen, die ein gemeinsames Ziel haben: ein möglichst reibungsloses Leben in schönster Übereinkunft mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie wollen sich gut unterhalten, gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, und das hat der Roman auch nicht vor.

Eine dieser beiden Frauen heißt Inga, wurde 1941 als Tochter eines Provinzarztes im Ruhrgebiet geboren und heiratet den beliebtesten Junggesellen der Gegend, den gut aussehenden Unternehmenserben Wilhelm Rautenberg ("keiner sah so schmuck aus wie er"). Im Zuge des Wirtschaftswunders wächst die Firma rasant und wirft sehr bald so viel Geld ab, dass sich die Familie kein Haus baut, sondern einen Sitz, einen abgelegenen Großbürgerpalast mit Schwimmhalle, Reitstall und Tennisplatz, in dem selbst für die bettlägerige Großmutter ein eigener Flügel eingeplant ist.

Die andere Frau ist eigentlich ein Mädchen, Ingas jüngste Tochter, die kleine Suse, die aus der Ich-Perspektive berichtet, wie es ist, in den Siebzigerjahren unter erschwerten Bedingungen aufzuwachsen: rothaarig, absurd reich, unter einem alleinerziehenden Vater, dessen psychischer Zustand sich kontinuierlich verschlechtert und ohne Erinnerung an die Mutter. Denn Inga Rautenberg, die blonde Dorfschönheit, die regelmäßig mit der Schauspielerin Grace Kelly verglichen wird, bevor aus dieser die leicht verlebte Fürstengattin Grace Patricia Grimaldi wurde, stirbt in ihrem dreißigsten Jahr an Leukämie.

Von Alfried Krupp wird voller Hochachtung gesprochen, trotz der Nürnberger Prozesse

Der Tod der Inga Rautenberg ist das Gravitationszentrum des Romans. Auf der reinen Erzählebene begibt er sich scheinbar kritiklos hinein in die Selbsterzählung der Fünfzigerjahre als heile Welt, in der die Dinge übersichtlicher waren und noch nicht alles unentwegt politisiert und sexuell befreit werden musste. Inga richtet sich mit einer fröhlichen Bestimmtheit in ihrer Ehe ein, die man vielleicht von den englischen Bürgerstöchtern in George Eliots "Middlemarch" kennt. Sie bewundert ihren Wilhelm, wenn er beim Dressurreiten hoch zu Ross eins wird mit dem Tier und sie mag auch ihren neuen Namen, weil er ihrer Unterschrift eine neue Eleganz verleiht.

Durch die Ehe, so sieht sie das, wird sie "erwachsen, nicht mehr nur Tochter, sondern vor allem Ehefrau sein. Die Ehe wird ihr gut zu Gesicht stehen." An anderer Stelle erfahren wir fast nebenbei von einer anderen Eigenschaft der Inga Rautenberg, obwohl die für ihr neues Leben als westdeutsche Industrieunternehmergattin vielleicht noch viel größere Bedeutung hat: "Inga hatte in Geschichte nicht besonders gut aufgepasst."

Nur wenige Jahre später allerdings bricht diese schöne junge Mutter, Gattin und Hausfrau, die zwar manchmal gelangweilt in ihrem neuen Leben herumsteht, wenn Wilhelm erst spät aus dem Reiterstübchen kommt, aber auch nicht zu sehr, ausgerechnet auf der Party zusammen, die eigentlich die finale Ankunft der Familie in den höchsten sozialen Zirkeln markieren sollte, auf dem Oktoberfestempfang der Familie Krupp. Die Einladung wird als große Ehre empfunden. Als sie im Hause Rautenberg eintrifft, erinnert sich die personale Erzählstimme an die ausschweifenden Feste des Patriarchen Alfried Krupp in der Villa Hügel, die Wilhelm und Inga selbst schon einmal besuchen durften: "Inga hatte man den ganzen Abend nicht von der Tanzfläche bekommen, mit allen Männern hatte sie getanzt, sogar mit dem alten Krupp. Eine imposante Erscheinung war dieser hochgewachsene Patriarch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen." Alfried Krupp ist im Bewusstsein der Rautenbergs ein Unternehmer alten Formats, man spricht von ihm ausschließlich mit Hochachtung.

Diese Welt ist nur deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie verstümmelt ist

Die subtile Erzählkunst dieses Romans besteht darin, dass Eva Sichelschmidt auch hier, als längst alle Alarmglocken schrillen, nicht abweicht von der Perspektive ihrer naiven Protagonistin Inga. Es bleibt also unerwähnt, dass Alfried Krupp zwei Jahrzehnte zuvor in den Nürnberger Prozessen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, die er zumindest teilweise absitzen musste, bevor er 1951 amnestiert wurde. Sein Unternehmen hatte für die Ausrüstung der Wehrmacht mit schwerem Gerät etwa 60 000 Zwangsarbeiter beschäftigt und, als das noch immer nicht genügte, zusätzlich jüdische KZ-Insassen angefordert. Bis zu seinem Lebensende hat Alfried Krupp die Nürnberger Prozesse als ungerechtfertigt betrachtet.

Trotzdem geht es Familie und Konzern in der Romangegenwart schon wieder blendend, ihr Ruf in der westdeutschen Oberschicht ist tadellos, die Einladungen zu ihren Empfängen gleichen Ritterschlägen: "Von der Feier auf einem Schloss der Familie Krupp in der Nähe von Salzburg hat Uli noch Monate geschwärmt. Champagner hat es gegeben, viel Prunk und allerhand Frivolitäten in sogenannten Separés." Auf diesem Oktoberfestempfang also bricht Inga Rautenberg kreidebleich zusammen, womit sich die Verdrängungskultur der jungen, neureichen Bundesrepublik motivisch verschränkt mit der Leukämie der Protagonistin. Ein Leben ist hier eigentlich nicht möglich. Selbst die Ärzte belügen sie und verschweigen ihr die Diagnose.

Von diesem Kippmoment aus betrachtet verwandelt sich die ausgestellte Betulichkeit der Erzählung in eine Dokumentation der praktizierten Verdrängungskultur. Durch die Pelze und Perlenketten schimmert immer noch der Massenmord. Die junge Bundesrepublik begräbt ihre Schuld unter Protz, Konsum und Ausschweifung.

Die nationalsozialistischen Überhänge sind im Roman allgegenwärtig, aber man sieht leicht über sie hinweg, weil Inga Rautenberg über sie hinwegsieht. Die Reiter treffen sich abends bei dem ehemaligen Schweinebauern Brinkmann, der auf Pferde umgesattelt hat und damit neuerdings zu einigem Geld gekommen ist: "Der unzeitgemäße Spruch 'Meine Ehre heißt Treue', der über dem Eingang zur Brinkmann'schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen", heißt es da, genau wie die gekreuzten SS-Dolche über dem Sofa: "Ein Kauz eben." Als die Enkelin die geliebten Großeltern fragt, wie sie es eigentlich damals gehalten haben mit Hitler, wird sie gemaßregelt, nicht so schlau daherzureden: "Man muss das auch mal von der anderen Seite sehen." Und selbst der weiche Wilhelm Rautenberg lässt zwar die Schulfreunde seiner Töchter den Pool benutzen, aber nur, wenn sie weiß sind: "Wenn hier ständig Neger in mein Schwimmbad springen, lass ich das Wasser raus."

Eva Sichelschmidts Roman gibt sich erzählerisch teilweise so naiv wie seine Protagonistinnen, aber die Erzählkonstruktion, die das gesamte Tableau um den symbolträchtigen Tod von Inga Rautenberg herum anordnet, legt eine zweite Ebene frei. Diese Welt ist nicht deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie heil, sondern weil sie verstümmelt ist. Und die Sprache dieser Zeit ist nur deshalb so formatiert und beherrscht, weil sie nie zwecklos sein darf, sondern permanent verleugnen muss.

Bei all den eleganten, wohlhabenden Westdeutschen, die diesen Roman bevölkern, handelt es sich in Wahrheit um die "Mörder und Irren", deren Allgegenwart Ingeborg Bachmann in ihrem Erzählungsband "Das dreißigste Jahr" beschrieben hat. So ist es vielleicht kein Zufall, dass auch Eva Sichelschmidts Protagonistin dreißig Jahre alt ist, als sie stirbt.

Eva Sichelschmidt : Bis wieder ein weint. Roman. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020. 480 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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