Deutsches Schauspielhaus Hamburg:Schäm dich nicht

Deutsches Schauspielhaus Hamburg: Der Schauspieler Paul Behren hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Autor Édouard Louis, dessen Buch die Grundlage für "Die Freiheit einer Frau" am Deutschen Spielhaus Hamburg lieferte.

Der Schauspieler Paul Behren hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Autor Édouard Louis, dessen Buch die Grundlage für "Die Freiheit einer Frau" am Deutschen Spielhaus Hamburg lieferte.

(Foto: Denis "Kooné" Kuhnert)

In "Die Freiheit einer Frau" beschreibt Édouard Louis den Weg seiner Mutter aus der Unmündigkeit. Jetzt ist eine Adaption in Hamburg am Theater zu sehen: ein Mutmacherabend über den Exit aus der Unterschicht.

Von Till Briegleb

Es ist die Scham, die Armen rät, zu bleiben, wo sie sind. Und nur der Stolz führt hinaus aus dem Dilemma der Duldsamkeit, das darin besteht, keine Sehnsüchte aufkommen zu lassen. Das beschreibt Édouard Louis in seinen Büchern über die Unterschicht, der er entstammt, einer Klasse, der schon allein durch diesen beschämenden Namen die Unmöglichkeit suggeriert wird, jemals den langen Weg hinauf zu einem besseren Status zu bewältigen. Auch wenn der Wohlstandsstaat jedem ein Bühnenbild der Chance baut, für die meisten Menschen bleibt das Milieu der Eltern das eigene.

Louis hat 2018 zunächst in seinem kurzen Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" autobiografisch erzählt, wie Klassenscham Generation auf Generation mit denselben Strukturen aus Gewalt, Männlichkeitsgehabe und Alkohol an ihren Platz fesselt. Aus der Perspektive eines verletzten Sohns, dem es mit stolzen Träumen und den großen Nehmerqualitäten, die man als schwuler Junge im Arbeitermilieu zum Überleben braucht, gelungen ist, ein gefeierter Schriftsteller zu werden, blickte er auf das Unglück seines Vaters. Und mit der gleichen Mischung aus Mitleid, Analyse und Zorn hat er diese Geschichte 2021 wiederholt - mit einem besseren Ende. Titel: "Die Freiheit einer Frau".

In der deutschsprachigen Erstadaption dieses wiederum kurzen Bändchens, das Louis über seine Mutter geschrieben hat, versucht Falk Richter am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg allerdings, das Beschämende der Armut nicht durch Authentizität zu reproduzieren. Das Bühnenbild von Katrin Hoffmann besteht im Zentrum aus einer weißen Zikkurat der proletarischen Ausstellungsstücke von der Bierdose bis zum Fernseher. Gekrönt ist dieser klinische Tempel der Armut mit einer großen Gipsfaust als Altar der Gewalt. Und in dieser Künstlichkeit wird auch die enge Küche der siebenköpfigen Familie mal als Puppenstube, mal als virtueller Spielraum neben der Bühne mit ständigem Regen vor den Fenstern animiert.

Warum alle Symbole des prekären Lebens hier den Charakter einer Fernsehshow bekommen, der noch dadurch verstärkt wird, dass eine Frauenband um die Hamburger Musikerin Bernadette La Hengst aus einer Rosenecke heraus dauernd Rock mit Botschaft dazu gibt, erschließt sich nicht zwingend. Vielleicht, weil das Stück sonst zu sehr den Charakter eines Vortrags angenommen hätte? Paul Behren, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem im Publikum anwesenden Édouard Louis hat, erzählt den Inhalt mit Charme und Lockerheit meist von der Rampe ins Publikum. Eva Mattes in der Rolle der Mutter der Gegenwart, die es nach Jahrzehnten der Abhängigkeit und Unmündigkeit endlich geschafft hat, egoistisch zu sein und ein neues Leben in Paris zu beginnen, begleitet ihn wie ein unsicherer Gast in einem Reality-TV-Format.

Die Einlasskontrolle zur Bourgeoise funktioniert über Demütigungen

In den "Einspielern" mit Rückblicken in das dörfliche Leben aus Suff, Aggression, Unglück und Resignation schaffen Josefine Israel und Christoph Jöde als Édouards Eltern ein facettenreiches, atmosphärisch dichtes Sittenporträt, begleitet von Videosequenzen, die Marine Le Pen, Rambo, Wrestler und Zinédine Zidane zeigen. Medienschnipsel, die vermutlich Ahnungen von dem soziologischen Bezugsgeflecht liefern sollen, das Louis, aber noch viel dezidierter der französische Soziologe Didier Eribon in "Rückkehr nach Reims", der Aufarbeitung seiner proletarischen Kindheit, geliefert hat. Darin erklärte Eribon am Beispiel seiner Familie, warum die einst so kämpferische linke Arbeiterschaft Frankreichs inzwischen überwiegend rechts wählt, rassistisch redet und einen Krieg gegen das "Fremde" führt.

Aber solche Einbettungen in strukturelle Betrachtungen haben in Falk Richters Bearbeitung von "Die Freiheit einer Frau" ihren Platz eher im Programmheft, wo über die Bedeutung von Klasse, Scham und Frausein reflektiert wird. Was auf der Bühne als große Videoeinspieler unter dem Titel "Reflexionen" von Richter inszeniert wird, sind wiederum Talkshow-Zitate, die zeigen, wie ein Moderator den literarischen Emporkömmling Édouard Louis mit "kritischen" Fragen zu beschämen versucht. Die Einlasskontrolle zur Bourgeoise ist immer noch intakt. Sie funktioniert über Demütigungen. Und wie lange es dauert, diese abzustreifen, das erzählt diese Show zu Exit-Strategien aus der Unterschicht schließlich doch sehr ausführlich, bis hin zu einem sehr kitschig geratenen Siegesfinale mit Champagner, Hummer und wildem Getanze.

Was diesen Abend trotz seines formalen Hangs zu Unterhaltungsformaten streckenweise bewegend macht, ist die Orientierung am Gefühl der Empathie. Louis' Text beschreibt eine Beziehungsreise, auf der er die familiären Erniedrigungen Schritt für Schritt von der Person seiner Mutter distanziert und dabei ihr großes Leid erfasst. Für diesen oft schmerzlichen Prozess zwischen Mutter und Sohn findet Falk Richter immer wieder eindrückliche Szenen mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern. Und so wird aus Édouard Louis' Buch ein Mutmacherabend mit klarer Botschaft. Wer sich von der Scham isolieren lässt, ist verloren. Für das Glück braucht der Mensch Verständnis und Verbündete. Und das gilt nicht nur für die Freiheit einer Frau.

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