Carene kam zu früh zur Welt, aber Emma Bond, ihre Mutter, war so stolz auf ihr Kind, dass sie es die übrige Welt oder jedenfalls die Nutzer von Facebook wissen lassen wollte. So wie andere Partyfotos verschicken, sandte sie ein Bild hinaus, das ihr Neugeborenes an ihrer Brust zeigte. Stillen mag der natürlichste Vorgang von der Welt sein, er missfällt dennoch dem einen oder der anderen, jedenfalls wenn er in die Öffentlichkeit gedrängt wird. Die bis dahin so glückliche Emma Bond erhielt eines Tages Nachricht von Facebook. "Jemand hat gemeldet, dass Ihr Foto Nacktheit zeigt", lautete die Botschaft. Das Bild des großäugig an der Mutterbrust nuckelnden Babys war einigen der keuschen 1,3 Milliarden Facebook-Nutzer, die vermutlich alle mittels Jungfernzeugung oder durch einen 3-D-Drucker auf die Welt gekommen sind, nicht zumutbar; es wurde entfernt.
Alte Bilder passen zu "unserer Zeit des Reichsuntergangs"
Die Geschichte, die Emma Bond im Oktober 2014 widerfuhr, ist Teil der Folklore, die Facebook seit seinen Anfängen umgibt. Als amerikanische Firma ist sie besonders streng bei allem, was andere kränken könnte, vor allem, wenn es um Sex geht, und eher lax bei Gewaltdarstellungen; dafür kennt Facebook, wie sich seit Edward Snowdens Enthüllungen herumgesprochen hat, bei der Nutzung und Weitergabe von Daten überhaupt keine Moral. Facebook hat sich bei Emma Bond bald entschuldigt und zum Beweis seiner Liberalität sogar erklärt, in Zukunft bliebe auch die zweite, die beim Stillen ungenutzte, aber möglicherweise ebenfalls entblößte Brust von der Zensur verschont. Danke, Facebook!
Jerry Saltz hat nicht gestillt, aber ihn traf der Bannstrahl aus Kalifornien ebenfalls. Der 64-jährige New Yorker Kunstkritiker ist vergangene Woche von seinen Facebook-Verbindungen abgeschnitten worden, weil er Kunst verschickte und damit auf das Missfallen seiner Kritiker traf. Seit einiger Zeit lädt Saltz Bilder aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit hoch, um, wie er in einem Interview erklärt hat, mit seinen Followern ins Gespräch zu kommen. In diesen alten Bildern pulse eine Untergangsstimmung, die "zu unserer Zeit des Reichsuntergangs" passe. Solche Endzeiten würden "gewaltige Kunstwerke" hervorbringen. Versteht sich, dass seine Gefolgschaft bereits auf die Behauptung, mit dem amerikanischen Imperium gehe es zu Ende, empört reagierte.
Mit viel Liebe zum grausamen Detail
Saltz hat einen Ruf als nicht bloß leidenschaftlicher, sondern leidenschaftlich aggressiver Kritiker. Eine Zeitlang war er Lastwagenfahrer (er nennt sich den "einzigen jüdischen Trucker"), schrieb dann für die Village Voice und ist heute vor allem beim New York Magazine beschäftigt. Auch beim deutschen Monopol-Magazin ist er Mitarbeiter. Mit viel Liebe zum grausamen und ekelhaften Detail zeigt Saltz den Facebook-Nutzern auf seiner Seite, dass es im Mittelalter nicht immer nett zuging. Da wurde nach dem Vorbild der Märtyrerdarstellungen nach Herzenslust gefoltert, gevierteilt, gehäutet, geröstet. Die guten Christenmenschen hatten nicht bloß ihre persönliche Freude dran (um nicht von astreinem Sadismus zu sprechen), sie durften sich in dem Glauben wähnen, damit ein gutes Werk oder es jedenfalls zur höheren Ehre Gottes zu tun.
Und die Kunst? Die Kunst war eifrig dabei. Kupferstecher, Bildhauer, Maler vor allem haben mit größter Hingabe und bewundernswerter Präzision dargestellt, wie Menschen nicht bloß vom schwefelstinkenden Teufel geholt werden, sondern wie der sie anschließend ordentlich hernimmt.
Dass ein mittelgroßes Teufelchen auch in ihm steckt, wird Saltz kaum bestreiten, sonst legte er es nicht auf den Konflikt an. Er bekämpft mit großer Leidenschaft die kommerzielle Ausstellungspolitik des Museum of Modern Art MOMA und hat (wie auch seine Frau Roberta Smith, die Kunstkritikerin der New York Times) die jüngste, um die isländische Künstlerin Björk organisierte Ausstellung in Grund und Boden gestampft. Nach Meinung seiner Gegner hat er es also nicht besser verdient und sich den Ausschluss aus der weltumspannenden Facebook-Gemeinschaft redlich verdient.
In einem Blog-Beitrag hat Saltz die konservative Richtung kritisiert, die die Gegenwartskunst seiner Meinung nach einschlägt. Der herrschaftsfreie Diskurs, den unter anderem Facebook ermöglichen sollte, ist auch für ihn zu Ende, wenn er in reine Aggressivität umschlägt, wenn alles, was Saltz an Kunstgegenständen vorführt, von Übelmeinenden als rassistisch, sadistisch, schwulen-, frauen- oder gemeinschaftsfeindlich denunziert werden kann. "Eine der tollen Waffen der Kunst ist ihr schlechter Geschmack", hat er geschrieben, denn nur so könne sich die Kunst weiterentwickeln.
Was das für Grenzen sind, steht da natürlich nicht
Facebook sieht das naturgemäß ein kleines Bisschen anders. Facebook fühlt sich - es sei denn, die NSA klopfte - der Neutralität verpflichtet, ist also auch der Kunst gegenüber fühllos. Facebook, heißt es auf der Website der deutschen Ausgabe, "verfolgt (!) strikte Richtlinien gegen das Teilen pornographischer Inhalte sowie jedweder sexueller Inhalte, wenn Minderjährige beteiligt sind. Darüber hinaus", und jetzt wird es so vage, wie das nur ausgefuchste Juristen formulieren können, "legen wir Grenzen für die Darstellung von Nacktheit fest." Was für Grenzen das sind, wo die verlaufen, steht da natürlich nicht. Man sei bestrebt, heißt es in diesem übersetzten Englisch, "das Recht der Menschen, persönlich bedeutsame Inhalte miteinander zu teilen, zu respektieren". Zwei Beispiele für dieses Bestreben werden in den Richtlinien genannt, der David von Michelangelo und die uns bereits bekannte stillende Mutter, aber nicht gesagt, ob das jedem Florenz-Touristen vertraute David'sche Fortpflanzungswerkzeug persönlich so bedeutsam ist, dass esrespektvoll versendet werden darf oder nicht.
Facebook hat den Kritiker Jerry Saltz inzwischen wieder aufgenommen, nur einige der von ihm geteilten Bilder sind verschwunden. Den Weltfrauentag am vergangenen Sonntag feierte Saltz stilbewusst mit einem Gruß aus der Kunstgeschichte, aber es musste Judith sein, die, in der Rechten noch das tropfende Schwert, den abgeschlagenen Kopf des Holofernes in den Sack stecken will. Der leicht gekürzte Feldherr liegt ohne sein wichtigstes Körperteil auf dem Kissen, und aus dem geöffneten Hals ergießen sich die medizinisch korrekt wiedergegebenen Blutströme.