Fabelwesen:"Wie ruhig sie sind, nicht?"

Einhorn - KEINE ONLINE NUTZUNG !

Tomi Ungerer malte die Melkerin und das fassungslose Einhorn 1968 für ein Werbeplakat.

(Foto: Musée de Strasbourg, Tomi Ungerer / Diogenes Verlag AG Zürich, Suisse Tous)

Aristoteles erwähnte es, Rilke liebte es, selbst Harry Potter begegnete ihm: Eine Pariser Ausstellung führt das Einhorn als Wappentier moderner Sehnsüchte vor.

Von Joseph Hanimann

Ein weißes Pferd mit Hinterbeinen einer Antilope, Ziegenbart und langem, gewundenen Horn auf der Stirn ist, so Jorge Luis Borges in seinem "Buch der imaginären Wesen", die übliche Darstellung dieses fantastischen Tiers. Es ist eine der rätselhaftesten Erscheinungen aus der Welt der Übernatur, alles wirkt paradox an ihm. Es steht zugleich für Bedrohung und Verletzlichkeit, Exotik und Häuslichkeit, Erotik und Unberührtheit, wenn es, wie zahlreiche Darstellungen zeigen, bei einem Mädchen Schutz vor seinen Verfolgern sucht. Den mittelalterlichen Überlieferungen zufolge lässt es sich nur durch eine Jungfrau einfangen. Im Schoß der Jungfrau, schrieb Leonardo da Vinci, vergesse dieses sinnliche Tier seine Wildheit, "und so können die Jäger es fangen".

Tatsächlich ist das Einhorn in den berühmtesten Darstellungen entweder als verfolgtes Jagdtier wie auf den Wandteppichen des New Yorker Metropolitan Museums oder als vertrauliches Gesellschaftstier einer jungen Frau wie auf den sechs Stickereiteppichen "La Dame à la licorne" des Pariser Musée de Cluny zu sehen. Beide Ensembles stammen aus der Zeit um 1500, als das Einhorn in Westeuropa ein Liebling der Darstellung geworden war. Kreuzritter und andere Orientfahrer wollten ihm in der Wüste begegnet sein. Gelehrte nahmen es in ihre Bestiarien auf. Teppichkünstler, Holzschnitzer und Zeichner kombinierten es mit anderen Tierkörpern.

Denn das schon von Aristoteles und Plinius dem Älteren erwähnte Wesen war, wie der französische Mediävist Michel Pastoureau schreibt, im Wesentlichen ein Geschöpf aus der Bücherwelt des 12. und 13. Jahrhunderts. Die bis zu drei Meter langen Zähne von Narwalen aus den Eismeeren seien damals unter den Zaubermitteln in Westeuropa aufgetaucht, ohne dass Händler oder Käufer das entsprechende Tier je zu Gesicht bekommen hätten, so erklärt prosaisch die Chefkonservatorin des Musée de Cluny, Béatrice de Chancel-Bardelot. So setzte sich eine fantastische Kombinatorik der Tierkörperformen in Gang. Ihr hat das Musée de Cluny in Paris nach zweijähriger Schließung zur Teilwiedereröffnung eine schöne Ausstellung gewidmet. Die vollständige Wiedereröffnung nach dem Museumsumbau im ehemaligen gallo-römischen Thermalbad ist für 2020 ankündigt.

Die unheilbringende Wirkung des Einhorns zeigt sich etwa in einer französischen Buchillustration aus dem 15. Jahrhundert zur "Legenda aurea" von Jacques de Voragine. Ein Einhorn und ein Löwe stürzen sich dort auf den hilflosen heiligen Antonius. Häufiger zeigt es sich aber von der sanften Seite, wenn es etwa in einem spätmittelalterlichen Wandteppich über dem Leichnam des heiligen Stefan wacht. Keine dieser Darstellungen hat indessen die Berühmtheit der sechs Szenen auf den Prachtteppichen "La Dame à la licorne" des Musée de Cluny erreicht, das Herz der Ausstellung. Mit üppiger Tier- und Pflanzensymbolik werden darin die fünf Sinne vorgeführt. In der Darstellung zum Sehsinn hält das Mädchen dem Tier einen Spiegel vor, in jener zum Tastsinn streichelt die Jungfrau ihm zärtlich das Horn.

Lange hingen die Teppiche verwahrlost im Schloss Boussac in Zentralfrankreich. Der für nationale Denkmalschätze zuständige Prosper Mérimée pochte auf Rettung, Kunstliebhaber wie die Schriftstellerin George Sand suchten die wiederentdecken Schätze auf. Im Jahr 1882 kaufte das Nationalmuseum für mittelalterliche Kunst die sechs Werke und erweiterte damit die Sammlung des Musée de Cluny. Dort zogen sie den jungen Rilke in Bann. "Es gibt Teppiche hier", schrieb er im "Malte Laurids Brigge", "komm lass uns langsam vorübergehen. Aber erst tritt zurück und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind, nicht?" Ein neuer Faszinationsschub hatte begonnen. Ihm gilt der zweite Ausstellungsteil.

Der Architekt Le Corbusier spielte mit dem Fabelwesen in seinen erotischen Zeichnungen

Beim Fin-de-Siècle-Maler Gustave Moreau taucht das Tier mit mehreren Hörnern auf. Der Architekt Le Corbusier spielte mit ihm in seinen erotischen Zeichnungen. Mitunter erscheint das Einhorn als Symbolfigur der Homosexuellen. In der Harry-Potter-Verfilmung ist es als Hintergrundmotiv auf dem Wandteppich des Hauses Gryffondor zu sehen, und das Buch "Kuss des Einhorns" von Tracy Chevalier wurde 2003 ein Bestseller.

Da mochten auch die künstlerischen Witzbolde nicht lang auf sich warten lassen. Tomi Ungerer zeichnete 1968 für ein Werbeplakat ein nacktes Mädchen mit Haarband und anzüglichen roten Strümpfen beim Einhorn-Melken. Der Künstler Nicolas Buffe wiederum ließ vom berühmten Tapisserie-Atelier in Aubusson einen "Einhornfellteppich" mit Kopf und Pfoten aus Limoges-Porzellan anfertigen, über den man, wie der Butler im Film "Dinner for one" über den Tigerfellteppich, sehr routiniert stolpern kann. Die Zauberkraft ist verflogen. Die Rätselhaftigkeit zwischen Wildheit und Anschmiegsamkeit strahlt aber weiter aus den alten Darstellungen, die uns mit ihren Symbolen wertvolle Geheimbotschaften senden.

Magiques Licornes. Musée de Cluny, Paris. Bis 25. Februar 2019. Katalog 19,90 Euro. Info www.musee-moyenage.fr

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